Es gibt einige russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die weltberühmt sind und die nicht zu Unrecht zum Schatz der Weltliteratur gezählt werden. Letzteres darf man wohl ohne Zweifel auch von Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904) behaupten, doch dass er so berühmt ist wie andere, ist mir bislang verborgen geblieben. Womöglich liegt es an der literarischen Form, die er meisterlich beherrschte, nicht unbedingt die dicken Wälzer, sondern kleine Geschichten, die einem nicht einfach nur die Zeit und die Welt, in der er lebte, nahebringen. Seine Erzählungen sind feinfühlig, auf eine sehr intuitive Art psychologisch und angereichert mit jenem feinsinnigen, leicht ironischen Humor, der zum Beispiel auch Bulgakovs „Meister und Margarita“ zu einem Meisterwerk macht. Auch tragische Momente kommen nicht zu kurz, gerade in Liebesdingen, wie man an seinen mitunter bekanntesten Erzählungen „Von der Liebe“ und „Die Dame mit dem Hündchen“ sehr gut erkennen kann.
Mit „Der Mord“ verhält es sich allerdings ein wenig anders. Situiert in einem abgelegenen Dorf im Südwesten Russlands kommt hier nicht die flanierende, philosophierende und auf eine zuweilen dekadente Art schöngeistige russische Bildungselite zu Wort, sondern das einfache Volk. Protagonisten sind der ehemalige Fabrikarbeiter Matwej Terechow, sein Cousin Jakow, der verwitwete Wirt einer heruntergekommenen Schenke, dessen Schwester Aglaja und dessen Tochter Daschutka. Dank des Erbes ihrer Familie teilen Matwej und Jakow sich nicht nur die Schenke, sondern auch eine recht sektenartige Interpretation des orthodoxen Glaubens und der Leser darf sich mit Tschechow an Tresen und Tisch dieser vier sowie weiterer Bewohner des Dorfes für eine für mich einzigartige literarische Erfahrung begeben.
Zu Beginn hören wir Matwej Techerow von seinem Schicksal erzählen. Sein strenger Glaube führte ihn in jungen Jahren zu der Überzeugung, dass die Priester der offiziellen Kirche nicht fromm genug seien. So begann er immer mehr zu fasten, immer mehr zu beten und richtete sich bei sich zuhause einen eigenen Gebetsraum ein. Mit der Zeit bekam er Besuch von immer mehr Gläubigen, die mit ihm beteten, was schließlich zu orgienartigen Zusammenkünften führte und ihm in seinem Dorf den Ruf bescherte, er sei ein Heiliger. Erst sein Chef in der Kachelfabrik und ein Arbeitsunfall brachten ihn zu der Überzeugung, dass seine Taten nicht gottgefällig waren, sondern vielmehr häretisch, vom Teufel, wie er sich ausdrückt, und so lebt er nun ein gottesfürchtiges und bescheidenes Leben, ohne es mit dem Glauben zu übertreiben. Das einzige Ziel, das er noch hat, ist, auch seinen Cousin Jakow von einer gemäßigten Glaubensausrichtung zu überzeugen.
Denn Jakow ist, wie es in seiner Familie Tradition ist, ebenfalls sehr streng gläubig und betet nur zuhause. Sein Gut ist zwar einiges wert, doch wirft es nicht viel ab und obwohl nur er sein Leben lang dafür gearbeitet hat, gehört es zu gleichen Teilen Matwej, der sich deswegen auch dort häuslich eingerichtet hat. So muss Jakow nicht nur tagaus tagein dem selbstgefälligen Müßiggang seines Cousins beiwohnen, sondern sich auch immer wieder von ihm belehren lassen, dass seine strenge Auslegung des Glaubens absolut nicht gottesfürchtig, sondern im Gegenteil eine Sünde sei. Den Hass der Schwester und der Tochter zieht Matwej ebenso auf sich und so kommt es eines Tages zum Eklat. Weil Matwej am Fastentag Öl zu Kartoffeln ist, spaltet Aglaja ihm mit einem Bügeleisen den Schädel. Die armseligen Versuche, die Leiche zu verstecken und einen unfreiwilligen Zeugen zu bestechen, scheitern, so dass alle drei schließlich verhaftet und zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt werden. Die Geschichte endet mit dem Weg Jakows in das Arbeitslager, wo er endlich mit Gott und der Welt seinen Frieden macht.
Der wahre Glaube liegt in der Mäßigung, in der Bescheidenheit und in der Demut vor allen Kreaturen in Gottes Schöpfung. Wer meint, sich mit zu exzessiven oder gar missverstandenen Praktiken eine besondere Stellung zu erarbeiten, gibt sich automatisch der schlimmsten Sünde von allen hin: dem Hochmut. Tschechows Geschichte ist von dieser Überzeugung getragen und gibt sie dem Leser als Leitlinie mit auf den Weg, um ihn in die Welt der Menschen dieses kleinen Dorfes zu begleiten. Der geläuterte Matweij steht für diese Überzeugung und fällt letztlich der Tatsache zum Opfer, dass allzu dogmatisch denkende Menschen wie sein Cousin Jakow keinen Widerspruch zu ihren Überzeugungen ertragen, sondern lieber mit Gewalt die Welt und alle Menschen ihren Prinzipien unterwerfen. Ich glaube, selten in der Literatur ist dieses Phänomen mit gleicher Eindringlichkeit und Sanftmütigkeit geschildert worden. Doch wem es geht wie mir, der wird diese beiden in scheinbarer Opposition zu einander stehenden Protagonisten nicht so schnell aus dem Kopf bekommen und vielleicht auch irgendwann an den Punkt gelangen, an dem man sich die Frage stellt: Ist Matweij tatsächlich geläutert, wenn er nur von einer kategorischen Überzeugung zur anderen wandert? Und wieso findet Jakow ausgerechnet im schlimmsten vorstellbaren Schicksal seinen Glauben zurück?
Die Faszination für Tschechow ist mir mit dieser Geschichte gegeben worden und obwohl ich „Der Mord“ als eher ungewöhnlich für sein Gesamtwerk empfinde, haben auch die anderen, die ich bislang gelesen habe, für viele wunderbare Stunden gesorgt. Er steht als Literat für mich stellvertretend für das Phänomen, dass die russische Kultur, man verzeihe mir den Ausdruck, fundamentale Gemeinsamkeiten hat mit der deutschen, den Tiefsinn und den Hang zur Melancholie, sie aber auf eine gänzlich andere Art pflegt und ausdrückt. Wie genau diese Art zu beschreiben ist, mag jedem selbst überlassen bleiben. Ich kann nur sagen, dass ich einfach jeden beneide, dem solche Reisen in die Literatur noch bevorstehen.