1996-2019: The Road to

Schon häufiger betonte ich, dass das Buch Heaven 11 für mich irgendwo zwischen Herzensangelegenheit und Lebenswerk steht. Die Umstände, wie es dazu kam, möchte ich im Vorfeld der Veröffentlichung ein wenig erhellen, auch damit der eine oder andere Leser vielleicht den wirklichen Bezug zwischen dieser Geschichte und meiner Biografie erkennt. Es gibt verschiedene Etappen und Stationen, die bis zur Veröffentlichung notwendig waren. Heute will ich die erste und bis März dann den Rest erzählen.

 

1996-1997


April 1996: Einberufung, Verweigerung und eine Eingebung

Schon während meines Abiturs musste ich mich, wie jeder zu dieser Zeit, mit der Frage auseinandersetzen, wo ich meinen Zivildienst machen würde. Dem Schreiben des Kreiswehrersatzamtes, dass ich in die Bundeswehr eingezogen werden würde, folgte die obligatorische Untersuchung bei der Musterung, ein kurzes Gespräch, ein Brief, in dem ich die Kriegstreiberei des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg kritisierte und der Bescheid, dass sie mich nicht brauchten. Soweit, so gut. Aber wohin dann?

 

Ich rief in den beiden Krankenhäusern an, die mir in Krefeld bekannt waren, weil ich dort schon einmal gelegen hatte. Beide vertrösteten mich, ich solle mich später noch einmal melden. Dann fiel mir ein, dass ein Freund von mir von seinem Zivildienst in der geschlossenen Psychiatrie erzählte. Ich fand das irgendwie skurril, nahezu unvorstellbar, suchte aber die Nummer des Hauses heraus und rief an. Sie sagten, ich solle am nächsten Tag vorbeikommen. Plötzlich realisierte ich es: Ich würde vielleicht in der geschlossenen Psychiatrie arbeiten, einem Ort, den niemand so wirklich kennt, der aber jeden irgendwie fasziniert. Mein mäßiges Abitur, mein permanentes Gefühl, bislang im Leben nie wirklich etwas Besonderes gemacht zu haben, wich auch einmal dieser Idee. Eine bislang unbekannte Begeisterung packte mich.

 

Am nächsten Tag hatte ich in diesem Krankenhaus das, was ich als ein Vorstellungsgespräch erwartet habe. Doch das war es nicht. Ich hatte gerade Platz genommen, da stellte mir der Pflegedienstleiter die erste und einzige Frage: „Wo möchten Sie denn arbeiten? Offene oder geschlossene Station?“ Ich war total perplex, aber das erste, was mir in den Sinn kam war: Natürlich geschlossene, offene ist ja wohl gar nicht spannend! Also sagte ich ihm das und er führte mich sofort auf die Station, die später meine Arbeitsstelle werden würde.

 

Das Abitur habe ich dann mit Ach und Krach geschafft, die Schulzeit insgesamt erscheint mir als eine einzige Qual und Demütigung, besonders die Oberstufe. Ich wusste danach nicht, wer ich war oder was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Zwischenzeitlich hatte ich eine regelrechte Depression im permanenten Nichtstun zwischen Abitur und Zivildienst. Selbst meine Eltern bemerkten das, ließen mich aber, denn sie haben mich immer darin unterstützt, meinen eigenen Weg zu gehen, wofür ich ihnen bis heute unendlich dankbar bin. Das einzige, was mir damals wirklich Hoffnung gab: Ich würde im September meine Stelle als Zivi antreten und das in der geschlossenen Psychiatrie. Es gab in meinem Kopf so wenig Vorstellung von diesem Ort und dieser Arbeit, das ich nicht einmal nervös war, bis zum Abend, bevor alles begann …

 


Montag 2. September 1996: Der erste Arbeitstag

Ich weiß, dass ich selten so aufgeregt war, wie am Abend des 1. September 1996, obwohl ich in diesem Jahr schon mehrere entscheidende Abiturprüfungen gemacht hatte. Aber am nächsten Morgen um 6 Uhr auf einer geschlossenen Psychiatriestation zum Arbeiten sein zu müssen, das lag definitiv außerhalb meines Erfahrungsschatzes als 19jähriger. Ich saß im Jazzkeller, meiner Krefelder Stammkneipe, und wusste nicht, wie viel Bier ich noch trinken musste, um die Anspannung loszuwerden. Andererseits: Ich musste um fünf Uhr aufstehen, das kam als Schüler äußerst selten vor, jedenfalls lange nicht so häufig, wie um fünf Uhr ins Bett zu gehen. Es war wie das Warten auf einem Umsteigebahnhof in einer Stadt, die man nicht kennt und auch nie wieder besuchen wird. Alles um mich herum schien fremd und belanglos, das Kommende war nicht nur ungewiss, sondern völlig unberechenbar. Um halb elf ging ich nach Hause, ohne auch nur ein wenig von der Anspannung abgeworfen zu haben.

 

Zwölf Stunden später saß ich im Krankenhauspark (der wird im Roman auch häufiger vorkommen) neben meinem Zivikollegen Martin, den ich seit fünf Stunde kannte. Ich wusste damals noch nicht, dass Martin und ich später für drei Jahre Bandkollegen bei Way of Joy werden würden. Er, wie auch alle anderen, war nicht unfreundlich, wirkte aber noch etwas verschlossen. Doch im Nachhinein kann ich sagen, dass jeder auf so einer Station seine eigene Routine hat, dagegen ich selbst am ersten Tag noch keine hatte und auch zu keiner anderen gehörte. Ich war das Neue, was man erst an die richtige Stelle platzieren musste. Daher war ich zunächst außen vor. Meine Uhr zeigte halb elf an und ich dachte nur: „Meine Güte, die Schicht dauert bis halb zwei und kommt mir jetzt schon wie eine Ewigkeit vor. Das soll nun dreizehn Monate so weitergehen?“

 

Es ging nicht nur noch dreizehn Monate, sondern sehr viel länger. Denn auf so einer Station wird man schneller erwachsen, als man gucken kann. Nirgendwo ist man näher am Leben. Es ist, als liege die ganze menschliche und zivilisierte Gesellschaft plötzlich vor einem auf dem OP-Tisch und man sieht durch Haut und Knochen direkt in ihre Eingeweide. Das erzeugt bei vielen Ekel, hat aber für die, die sich an den Anblick gewöhnt haben, auch eine ganz besondere Ästhetik, wenn nicht gar eine Schönheit. Mit allen skurrilen, merkwürdigen, schönen und teilweise unglaublichen Geschichten, die ich dort erlebte und auf denen der Roman basiert, bekam ich eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert. Vieles bekommt eine neue Bedeutung, Begriffe, denen man in seiner Jugend hinterher rennt, ohne sie wirklich zu überdenken: Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, Zufriedenheit und besonders Ruhe.

 

Wer 12 Tage am Stück täglich mindestens 8 Stunden auf einer geschlossenen Station arbeitet, eignet sich Strategien und Verhaltensweisen an, die für die Lösung der Probleme in diesem Umfeld adäquat sind. Ob sie dem Rest der Welt noch als "normal" erscheinen? Man bezweifelt es zunächst und wenig später ist es einem auch schon egal. Ganz langsam und doch stetig beginnt man, diese Strategien auch in seinem Alltag anzuwenden und wird, nun, "anders", anders als der Rest der Welt. Man beginnt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, Probleme nicht als solche zu sehen und umgekehrt jene zu begreifen, vor denen der Rest der Gesellschaft nur verständnislos zurückschreckt. Vor allem sieht man diese vielen Konventionen und Selbstverständlichkeiten, mit denen sich viele das Gefühl von Normalität aurecht erhalten. Auf Station stehen sie alle in Frage und eine Erkenntnis ist für mich stets geblieben: Es gibt Konventionen, die sinnvoll sind, die im Leben helfen, und jene, die nur dazu gemacht sind, um andere zu unterdrücken. Letztere kann man getrost bekämpfen. Als Jugendlicher wollte ich einfach alle Konventionen bekämpfen. Inzwischen hatte ich mehr Einsicht. Ich glaube, das ist, was man wirklich einen Reifeprozess nennen kann.

 

Und wer den Alltag auf einer solchen Station einmal gesehen hat, kann nicht mehr zurück. Er hat auf ewige eine bestimmte, von diesen Erlebnissen gefärbte Perspektive auf das Leben um sich. Aber nach 13 Monaten sah ich nur Weniges, nur schemenhaft, es gab noch so viel zu lernen und zu entdecken. Also entschied ich mich nach einigen Monaten, meine Arbeit in der geschlossenen Psychiatrie noch um mindestens ein Jahr zu verlängern...

 


August/September 1997: These mist covered mountains ...

Im Sommer 1997 sagte mir jeder auf Station, dass das mit dem Job als Pflegehelfer ab September eigentlich kein Problem sein sollte. Ich kam mit den Leuten dort gut zurecht, mehr noch: Ich habe das erste Mal in meinem Leben wirklich die Erfahrung gemacht, wie das ist, wenn man für seine beruflichen und menschlichen Qualitäten geschätzt wird. Bei der Arbeit auf einer solchen Station wird bei chronisch hohem Patientenstand und regelmäßigen Krankheitsausfällen beim Personal jede Hand jederzeit gebraucht. Das war schön nach den Jahren sinnarmen Herumsitzens auf viel zu kleinen Stühlen in der Schule, der Abhängigkeit von Noten, die nach oft völlig intransparenten Bewertungskriterien vergeben wurden. Auf Station ist man Teil einer größeren Aufgabe, bekommt oft Arbeiten, die eine neue Herausforderung darstellen und wenn man sie gut macht, steigt das Vertrauen der Kollegen.

 

Ich weiß noch, und man verzeihe mir diese Anekdote, wie ich das erste Mal einen richtig großen Haufen Scheiße wegbringen musste. Ich habe mich echt geekelt, aber dann dachte ich mir: Wie willst Du etwas im Leben erreichen, wenn Du nicht einmal einen Haufen Scheiße wegtragen kannst? Also habe ich es gemacht, weiß Gott nicht das letzte Mal. Es war, so komisch das klingt, eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens und noch heute gehört es zu meinen Grundsätzen, niemals über Scheiße zu schreiben, wenn man sich nicht traut, sie anzufassen, bildhaft gesprochen natürlich. Ich glaube auch (was man im Roman merkt), dass ich Menschen erkenne, die schon einmal dieselbe Erfahrung gemacht haben, wie ich. Sie sind anders. Sie kennen das Leben. Sie haben sich mindestens einmal zu etwas überwunden, was jeder einfach nur widerlich findet.

 

Ich fühlte mich richtig wohl unter diesen Menschen, Personal wie Patienten. Geholfen hat mir dabei, dass das Team der Station, besonders nachdem ich ins Schwesternwohnheim des Hauses gezogen war, so etwas wie eine zweite Familie wurde. Natürlich schlug man sich, aber man vertrug sich auch wieder. Immerhin habe ich nicht nur von Station einen der besten Kerle überhaupt für unsere Band Whikings als Sänger rekrutiert (Martin!!!!), ich habe auch selbst bei einer zweiten Band als Bassist angeheuert, nämlich Way of Joy, bis heute eine meiner Lieblingsbands (haben tatsächlich auch gerade wieder ein neues Album rausgebracht, echt super!). Konzerte folgten, meistens vor wenig Publikum, CDs, die sich nur schwer verkauften, aber das Selbstbewusstsein stieg trotzdem. Natürlich, wenn man jeden Tag so abgefahrenes Zeug wie auf dieser Station erlebt, schweißt das nicht nur zusammen, es inspiriert auch ungemein.

 

Nimmt man diese ganze Situation und berücksichtigt außerdem, dass ich zu diesem Zeitpunkt gar keine Ahnung hatte, was ich einmal beruflich machen will, so ist es wohl leicht vorstellbar, wie nervös ich geworden bin, als im August immer noch keine Bestätigung von offizieller Seite gekommen war, dass ich weiterarbeiten durfte. Meine Eltern, Verwandte und Bekannte fragten natürlich, wie es denn mit Studium oder Ausbildung sei. Wenn ich schon dort weiterarbeitete, dann sollte ich doch direkt in die Ausbildung gehen. Ich sagte nein, ich will das nicht beruflich machen, aber es ist auch noch nicht vorbei. Ich hatte noch einiges dort zu lernen. 

 

Ein spontaner Spätsommertrip auf die Dingle-Halbinsel in Irland hat mir dann eine unglaubliche Erleuchtung beschert, von der ich bis heute zehre. Am ersten Abend saß ich an der Küste, vor mir eine Bucht, an deren anderem Ende einige wolkenverhangene Berge aufragten, dahinter der Ozean. Ich hatte einen Walkman mit irgendeine Kassette drin, ein Mix, den ich selten hörte. Auf einmal kamen die ersten Töne von Dire Straits „Brothers in arms“ und Mark Knopfler sang:

 

„These mist covered mountains are home now for me, but my home is the low lands and it always will be“

 

Bis zu diesem Zeitpunkt, das muss ich zugeben, hatte ich nicht wirklich so etwas wie einen festen Standpunkt im Leben. Ich hörte mir immer Meinungen zu allen möglichen Themen an, hatte aber selbst keine, für die es sich wirklich zu streiten lohnte. Das änderte sich genau in diesem Moment. Ich sah auf die Berge vor mir und begriff: Egal, was passiert, egal, wer zu mir kommt und mit welchen Argumenten auch immer er mich weichklopfen will, dieser Ort hier, die Küste von Dingle, ist schön und von nun an meine Heimat. Aber meine andere Heimat, der Niederrhein (also die „low lands“), ist der Ort, an dem ich zuhause bin, verwurzelt, von wo aus ich alles betrachte, bewerte und alles hat seine absolute Berechtigung. Keine Perspektive ist mehr wert als meine, umgekehrt ist meine Perspektive auch nicht mehr wert als jede andere. Aber ich darf sie behalten, keiner kann sie mir nehmen. Und selbst wenn ich den Job nicht bekomme, wird es auf Basis dieser Erkenntnis irgendwie weitergehen. Genau wegen dieses Moments bin ich bis heute ein so großer Dire Straits und Mark Knopfler Fan. Und wegen der Musik natürlich. ;-)

 

Ich habe den Job bekommen. Sie haben mich lange zittern lassen. Drei Tage vor Ende meines alten Vertrags kam der neue. Ich habe auch weiterhin viel gelernt auf Station, doch gut ein halbes Jahr später merkte ich, dass meine Zeit auf der Geschlossenen irgendwann vorbei sein muss. Aber eine Sache war anders als vorher: Endlich formten sich erste Ideen von meiner Zukunft.