Katja Kramer - Warum ich schreibe/ Vielleicht

 

Zwei Texte von Katja Kramer

 

Ein ganzes Buch hat Katja noch nicht veröffentlicht, aber das wird kommen. Im Moment bevorzugt sie die kurzen Texte und beherrscht sie sogar auf Deutsch und Englisch. Das hat sie in zahlreichen meiner Schreibseminare bereits bewiesen. Kollegin nenne ich sie, weil sie in der englischsprachigen Literaturzeitschrift Diamonds in the rough bereits mehrere Texte veröffentlicht hat und außerdem dort als Mitarbeiterin stets auf der Suche nach neuen Talenten ist. Noch studiert Katja Anglophone Studies und Kommunikationswissenschaften, doch für mich steht fest, dass sie mit ihrer Leidenschaft und ihrem Talent für Literatur und das Schreiben noch weite und interessante Wege gehen wird. Deswegen freue ich mich, dass sie mir zwei ihrer Texte zur Veröffentlichung und Euch zum Lesen gegeben hat. Der erste ist ein Essay über das Schreiben, der zweite einer ihrer wenigen literarischen Texte auf Deutsch. Vielen Dank, Katja, dafür. Ich hoffe, wir werden noch oft und viel zusammenarbeiten.

 

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Warum ich schreibe

Es gibt kaum etwas, das mir dasselbe Gefühl gibt, wie das Schreiben. Damit sind nicht nur Geschichten gemeint — dazu zählen alte, aktuelle sowie zukünftige Tagebucheinträge, Gedichtanalysen in der Schulzeit, Zettelchen, die man während des Unterrichts über den Tisch zum Freund oder zur Freundin schiebt, um ihm oder ihr etwas zu erzählen, was nicht länger warten kann, Geburtstagskarten, emotionsgeladene Nachrichten, die man in seiner Notiz-App verfasst, aber letztlich nie absendet. Ganz unwichtig, ob auf die eine oder die andere Weise — so gut wie jeder von uns schreibt.

 

Das deutsche Alphabet hat eine definierte Anzahl von 26 Buchstaben und doch werden sie tagtäglich bis ins Unendliche neu zusammengesetzt und können Verschiedenstes bewirken — sei es ein lautes Lachen, ein wehmütiges Weinen, ein neutrales Nicken. Auch nur ein einziges Wort kann für den einen alles bedeuten, für den anderen nichts; immerhin ist jeder Mensch von anderen Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen gezeichnet. Schreiben drückt immer etwas aus und Geschriebenes löst immer etwas aus; das Faszinierende ist, wie nah beieinander, aber auch wie verschieden beide Komponenten sein können. Was für die Person, die schreibt, Schmerz bedeutet, kann für die Person, die liest, Erleichterung heißen — vielleicht handelt es sich sogar um ein und dieselbe Person, bloß zu je anderen Zeitpunkten im Leben.

 

Schreiben gibt mir das Gefühl, alles, was ich je gedacht oder gefühlt habe, ausdrücken zu dürfen und dabei immer eine Geschichte — sei es auch nur ein Bruchteil dieser — zu erzählen. Schreiben gibt einem das Gefühl von Freiheit. Das Geschriebene muss nicht zwangsläufig von irgendwem gelesen werden, einschließlich sich selbst in der Zukunft; es kann einfach irgendwo existieren. Der Prozess des Schreibens reicht aus, um es wertvoll zu machen. Vielleicht begegnet man dann eines Tages doch — ob gewollt oder nicht — den Worten, die man einst auf eine Serviette kritzelte oder den nie vollendeten Text, den man in einer kalten Nacht vor zwei Jahren in sein Notizbuch schrieb. Vielleicht stolpert man zufällig über die Nachricht, die einem irgendwann das Herz brach, und vielleicht löst sie dann nichts außer Gleichgültigkeit aus. Vielleicht hat dieser eine Brief, den ich nie abgeschickt habe, keinen Empfänger; vielleicht ist er nur für mich gewesen, um mit einer Situation klarzukommen, die in der Vergangenheit aussichtslos schien. Ich muss diesen Brief nicht nochmal lesen, wenn ich nicht will, aber es hat einen Moment gegeben, in dem er mir geholfen hat; ich hatte einen endlosen Raum, um mich auszudrücken—und genau das ist es, was Schreiben gibt.

Vielleicht

„Wie geht’s dir?” fragt sie.

 

Eine gute Frage. Eine angebrachte Frage; hätte er sie bloß zuerst gestellt. Aber nein — ihm selbst fällt nach fast zehn Jahren seit ihrer letzten Begegnung keine bessere ein als die danach, warum ihr Schal immer noch aussieht wie neu. Oder warum sie ihn noch hat. Warum sie ihn trägt. Es ist nicht so, als wäre sie je besonders sorgsam mit ihren Sachen umgegangen. Er erinnert sich — ständig hat sie ihre Schlüssel verlegt, die Brille im Klassenraum vergessen, ist mit Pullis an Zäunen hängengeblieben, hat die Jeans mit Kaffee beschmutzt, ihre Schals an Bushaltestellen liegen lassen. Nicht diesen, wie’s aussieht.

 

Vielleicht ist es Zufall. Vielleicht weiß sie ja auch gar nicht mehr, dass er es war, der ihn ihr geschenkt hat. Vielleicht hat sie ihn ja einfach nach der ganzen Zeit aus dem Nichts wiedergefunden und sich dasselbe gedacht wie der Junge, der sich ihn vor einer gefühlten Ewigkeit für sie aussuchte.

 

Er weiß noch, wie er damals meinte, die schimmernden Details würden das Grün in ihren braunen Augen, das im dunklen Winter meist untergeht, hervorbringen. Der Stoff ist sanft und warm; ihre Hände schmerzten zwar meist vor Kälte, aber sanft waren sie. Vielleicht hat sie vergessen, wer sie damals immer gehalten hat, bis sie aufhörten zu zittern. Vielleicht hat sie auch vergessen, wessen Arme sich jahrelang anstelle des Schals um ihren Hals geschlungen haben.

 

Vielleicht ist es ihr aber auch einfach egal. Vielleicht ist es einfach nur ein Schal.

 

Er weiß, irgendwann wird dieser Schal nicht nur älter werden, sondern auch älter aussehen. Die Farben werden verblassen; Flecken entstehen; Fussel sich bilden; Fäden rausschauen, wo sie nicht hingehören. Und mit der Zeit wird er in Vergessenheit geraten, vielleicht nicht zum ersten Mal —  vielleicht aber auch nicht zum letzten. (gepostet: 1.3.2023)