Dire Straits - Love over gold (1982)

 

 

1. Telegraph Road

2. Private Investigations

3. Industrial Disease

4. Love over gold

5. It never rains

 

 

 

Wenn es um Szenerien geht, Ideen für Figuren oder Situationen gehören Dire-Straits-Platten und ebenso die Solo-Alben von Mark Knopfler zu den besten Inspirationen, die ich in meinem Plattenregal stehen habe. Man nehme nur die Hits: „Sultains of Swing“ erzählt von einer erfolglosen Kneipenband, für die sich keiner interessiert, „Money for Nothing“ von Handwerkern, die über Popmusiker schimpfen und „Brothers in Arms“ ist ohnehin als Apell für den Frieden ein Geniestreich, der mir noch nach zwanzig Jahren die Tränen in die Augen treibt. Dennoch komme ich nicht umhin, über das Album „Love over gold“ zu schreiben. Mit Sicherheit ist es das ruhigste, ich möchte fast sagen „nächtlichste“, das Mark Knopfler jemals von der Hand gegangen ist. Nachdenklich, in sich gekehrt breitet es dennoch ein weites Panorama unterschiedlicher Klang- und Gedankenlandschaften vor dem Hörer aus. Prädestinierte Hitsingles, die es eigentlich immer bei Dire Straits gibt, sucht man hier vergebens, weil Knopfler eingängige Refrains fast komplett ausgespart hat. Aber gerade weil es in der Dire-Straits-Albenfamilie unter den sechs Geschwistern das ruhigste ist, eignet es sich so wunderbar zur Inspiration.

 

Nahezu sämtlichen Promotern von Labels sträuben sich die Nackenhaare, wenn der Musiker ankommt und das sechzehnminütige Opus an den Anfang eines Albums setzen will. Ein Opener muss eingängig sein, den Zuhörer sofort mitnehmen und möglichst bei der Stange halten, heißt es dann stets. Dass „Love over gold“ mit einem Opus einsteigt, nämlich „Telegraph Road“, mag dafür sprechen, dass Dire Straits sich wegen des großen Erfolgs 1982 bereits so ziemlich alles leisten konnten, was Plattenfirmen in der Regel auf die Palme bringt. Und noch mehr: Der aufmerksame Hörer wird sich ein- oder zweimal vergewissern, ob das Album überhaupt schon läuft, denn das Lied hat ein Intro aus sanften Synthesizer- und Flötenklängen, die sich erst einmal in Ruhe ausbreiten möchten. Die nahezu filmisch inszenierte Geschichte (Knopfler schrieb zu diesem Zeitpunkt auch seine ersten Soundtracks), die „Telegraph Road“ erzählt, ist eine Parabel auf die Weltgeschichte, zumindest in der Moderne. Ein Mann möchte der Zivilisation entfliehen, wird von ihr eingeholt, nur um wieder verdrängt zu werden. Ich empfehle jedem Geschichtsstudenten, der die Moderne in ihrer Wirkung auf den Menschen wirklich verstehen will, sich eingehend mit diesem Lied auseinanderzusetzen. Es war außerdem die Initialzündung für meine Geschichte „Der Eremit“, die vor geraumer Zeit einmal als Song meiner Band Whikings geboren und dann zu einer Erzählung umgeschrieben wurde. Die Dynamik der Musik, die feinfühligen Soli, die die Stimmung der in den Texten erzählten Geschichte so treffend illustrieren, Zeilen wie "then came the churches, then came the schools, then came the lawyers, then came the rules", "I just like to go to work, but they shut it down, I got a right to go to work, but there's no work here to be found" oder "I've seen desperation explode into pain, and I don't want to see it again" treiben trotz des moderaten Sounds ein wahres Gefühlsgewitter durch das Gemüt des Hörers. Ja, so ist der Mensch, die Gesellschaft, so springt sie mit einem um, das ist es, was Berge an Geschichtsbüchern nicht klar formulieren können. Mit anderen Worten: „Telegraph Road“ ist für mich eines der besten Lieder, die jemals geschrieben wurden.

 

„Private Investigations“ war die „Hit-Single“ von „Love over gold“ und ist in dieser Funktion sicher an Eigenwilligkeit kaum zu übertreffen. Wiederum geht es langsam los und der gesamte Text wird lediglich gesprochen. Die Szenerie ist ein dunkles Zimmer. Ein Journalist durchforstet ein Tagebuch wegen einer privaten Angelegenheit und denkt dabei über die Sinnlosigkeit seiner Arbeit nach. Geheimnissen nachzuspüren, „Dreck“ aufzuwühlen, ohne über die Schicksale dahinter nachzudenken, nur für die Schlagzeile und hinterher bleibt nichts übrig. Wenn dieser Text fertig gesprochen ist, folgt die finale instrumentale Sequenz und man muss zugeben, dass sie auf dem Live-Album „On the night“ wesentlich beeindruckender umgesetzt ist. Dennoch sind die ersten zwei Lieder des Albums, diese ersten zwanzig Minuten wie die Audienz bei einem weisen Medizinmann unserer eigenen Kultur, der in einem Hinterzimmer sitzt und die Rätsel unserer Gesellschaft ganz für sich alleine gelöst hat.

 

Zurück ans Tageslicht befördert den Hörer das dritte Lied „Industrial Disease“. Fröhlich wandelt man angesichts dieser Melodie über die Straßen und sieht nun, was dort los ist. Überall Hektik, Panik, Diskussionen, Weltuntergangsszenarien und der Grund ist eben, dass alle unter jener „Industrial Disease“ leiden. Dabei ist der Text reich an Ironie und treffenden Zeilen, wovon eine zu meinen absoluten Lieblingen in der Musik überhaupt gehört: „Two men say they’re Jesus, one of them must be wrong“.  Nachdem die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Presse ihr Fett wegbekommen haben, beschreibt die letzte Strophe eine Szenerie an der Londoner „Speaker’s Corner“, wo die beiden „Jesusse“ sich gegenseitig in Schuldzuweisungen übertreffen. Diese Zeilen sind verantwortlich für die finale Szene meiner kurzen Geschichte „Sandbank“, in der sich zwei ebensolche Propheten streiten und schließlich der eine den anderen k.o. schlägt. Empathie und Ironie sind die großen Stärken der Texte von Mark Knopfler und dieses Lied mit Sicherheit eines der besten Beispiele dafür.

 

Aber was mag man mit all den Beschreibungen anfangen? Das vierte Lied und zugleich das Titelstück gibt Aufschluss darüber: „Love over gold“ – das ist die Lösung. Das Lied ist gerichtet an einen Menschen, der das Risiko liebt, der ein Leben als Drahtseilakt, als Tanz auf dem dünnen Eis führt. So zieht Mark Knopfler die Quintessenz aus allem vorher Geschilderten. Alle Dinge, die man in der Hand halten kann, sind vergänglich, können uns durch die Finger gleiten wie Staub. Deswegen muss die Liebe, müssen die Gefühle über allem Materiellen stehen. Vielleicht keine neue Erkenntnis, aber selten mit so viel weltlicher Allumfassenheit vorgetragen wie in der Summe der ersten vier Lieder. Eigentlich könnten wir jetzt gehen, aber zum Ausklang gibt es noch ein fünftes Stück.

 

„It never rains“ erzählt, so zumindest meine Interpretation, von den vergeblichen Versuchen einer Frau, ein Broadway-Star zu werden. Dabei versammelte sie viele gebrochene Herzen, wobei ihr eigenes Herz mindestens ebenso oft gebrochen wurde. In ihrer Skrupellosigkeit findet sie schließlich ihren Meister, der ihre Träume zerstört. Denn in dieser Welt gibt es nichts Gemäßigtes, nur den totalen Triumph oder die totale Niederlage: „It never rains around here, it just comes pouring down“.

 

Sowohl auf den Dire Straits-Alben als auch den Soloplatten von Mark Knopfler gibt es eine Fülle von Menschen, Szenerien, Geschichten und Weisheiten, die sich lohnen, in Erzählungen verwertet zu werden. Sie führen einen auf die größten Bühnen und in die kleinsten Hinterzimmer der Welt. „Love over gold“ führt dieses Phänomen am deutlichsten vor Augen, weil die Grenzen dieser Dimensionen dicht bei einander versammelt sind. Dass die zeitgenössischen Kritiker auf Grund des ruhigen Tons des Albums zunächst einmal weniger begeistert waren als von den Vorgängern, spricht eigentlich nur für seine Zeitlosigkeit. Es hat für mich unumstößlich den Titel „Meisterwerk“ verdient.