Midsommar (Filmstart: 26.9.2019)

Quelle: www.filmstarts.de
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Regisseur Ari Aster hat mit Hereditary im letzten Jahr einen Horrorfilm kreiert, der fast schon einen Gegenentwurf zu den im Moment gängigen darstellte. Statt Jump-Scares und Gruselfratzen setzte er auf Spannung oder „suspense“, wie man es wohl heutzutage nennt. Lange Kameraeinstellungen und –schwenks, er ließ sich viel Zeit, um Atmosphäre zu schaffen, um dann urplötzlich mit einem Moment des Schreckens aufzuwarten. Auch entfernte er sich von einer eindimensionalen „Da-is-nen-Dämon“-Handlung hin zu bildhaften, fast märchenartigen Plots, die viele Interpretationsspielräume zuließen. So wurde Hereditary gut aufgenommen, ließ aber auch noch genug Luft nach oben, um gespannt auf den nächsten Film zu sein. Nun läuft „Midsommar“ in den Kinos, und neben dem Urteil als „schaurigster Horrorfilm des Jahres“ kursieren auch schon viele Kritiken und Interpretationen im Netz. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, ohne zu viel zu verraten. Werfen wir also kurz einen Blick auf die Handlung.

 

Die junge Dani (Florence Pugh) leidet unter ständiger psychischer Belastung. Hauptsächlicher Grund ist ihre Schwester, die eine bipolare Störung hat und sie auf Trapp hält. Dani ist daher in Therapie und sucht außerdem ständig Hilfe bei ihrem Freund Christian. In ihrem Leben ist immer Alarm, sie hat Angst, sei weint, sie bekommt hysterische Anfälle. Eines Abends kommt es zu Supergau. Sie erhält eine Nachricht von ihrer Schwester, die besagt, dass sie sich und ihre Eltern umbringen wird. Und genau das tut sie. Alle drei sind tot. Christian versucht Dani zu trösten, obwohl seine Kumpels Josh und Mark ständig auf ihn einreden, er solle die Beziehung mit Dani beenden, weil sie nur Probleme mache. Als Dani erfährt, dass Christian, Josh und Mark bereits seit Wochen eine Reise nach Schweden planen, wo sie ein Fest der Familie ihres Freundes Pelle besuchen wollen, fühlt sie sich ausgeschlossen und will mit Christian darüber reden. Der verweigert sich ihr zwar, überredet aber seine Freunde, Dani einzuladen, und will ihr gleichzeitig ausreden mitzukommen. Als die vier sich treffen, wird Dani von Josh, Mark und ihrem Freund nahezu ignoriert. Lediglich Pelle tröstet sie ob des Todes ihrer Schwestern und ihrer Eltern und spricht eine ernst gemeinte Einladung aus. Daraufhin kommt Dani mit. Denn das Fest der Sommersonnenwende steht an und das soll ein ganz besonderes in diesem Jahr sein, das nur alle 90 Jahre stattfindet.

 

Ich habe versucht, die für mich relevanten Aspekte der ersten 10 Minuten dieses Films zusammenzufassen, weiter möchte ich auch gar nichts verraten. Denn die Ausgangssituation der Hauptfigur Dani ist für mich der wichtigste Hinweis darauf, dass etliche Kritiken, die den Film als eine Allegorie auf erstarkenden schwedischen Nationalismus und Nationalismus im Allgemeinen sehen möchten, nicht weit genug greifen. Auch ein angeblicher angeprangerter „Werterelativismus“, also die Einstellung jedwede Grausamkeit unter dem Mantel der „fremden Kultur“ einfach so hinzunehmen, sehe ich nicht, selbst wenn der Regisseur persönlich dieser Einschätzung nicht widerspricht.

 

Was alles auf dem Fest passiert, das die vier besuchen, hat viel mit bewusstseinserweiternden Substanzen, teils christlich, teils heidnisch, teils völkisch anmutenden Ritualen und natürlich auch mit Brutalität zu tun. Sie werden freundlich aufgenommen und ebenso zeichnen sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft durch eine außergewöhnliche Offenheit ihren Ritus betreffend aus. Von Anfang an scheint Dani eine besondere Rolle in dieser Hinsicht zu spielen. Während die Situation sich zuspitzt und immer deutlicher wird, welche Rollen ihren „Freunden“ Mark, Josh und auch ihrem Freund Christian zugedacht ist, bleibt ihr eigenes Schicksal bis zuletzt im Dunkeln, eigentlich bis zur letzten Einstellung des Films. Hieraus bezieht dieser, von einer ruhigen, ewig hellen und träumerischen Atmosphäre gekennzeichneten Film seine Spannung.

 

Warum aber glaube ich den Kritikern nicht? Die Gemeinschaft, um die es hier geht, zeichnet sich insbesondere durch den stark abweichenden Umgang mit einigen Paradigmen der westlichen Zivilisation aus: dem Umgang mit dem Tod, dem Umgang mit Sex und Fortpflanzung sowie der Rolle und der Wertschätzung des Individuums. Hier prallen Glaubens- und Wertegrundsätze radikal aufeinander. Dass es hier nicht darum gehen kann, Werterelativismus anzuprangern, der angeblich dazu führt, sämtliche Grausamkeiten unter dem Deckmantel kultureller Unterschiedlichkeit hinzunehmen, sieht man alleine daran, was die Werte der westlichen Zivilisation zu Beginn mit der Hauptfigur Dani machen. Sie ist ein Wrack, sie gilt als menschliche Ausschussware, als überflüssig, und in dieser Hinsicht kann Joshs zu Anfang geäußerte Meinung, Christian solle mit ihr Schluss machen, weil sie nur Probleme macht und nicht einmal ordentlich fickt, durchaus als programmatisch angesehen werden. Was mit ihr dann in der Gemeinschaft geschieht, macht diese Unmenschlichkeit „unserer“ Kultur nur umso deutlicher. Daher habe ich den Anfang so umfangreich beschrieben, denn für mich ist er das Wichtigste Element zur Deutung des Films.

 

Aber ist der Film letztlich eigentlich gut? Nun, wenn der Film aus meiner Sicht eines NICHT ist, dann ein Horrorfilm. Zwar gibt es brachiale Szenen und auch einige Schreckmomente, aber mit dieser Genrebezeichnung ist ihm nicht zu Leibe zu rücken. Im Unterschied zur düsteren, paranoiden Atmosphäre von „Hereditary“ lebt dieser Film tatsächlich eher von fast schon theaterartigen Arrangements. Zwischen die brutalen Szenen, die plötzlich hereinbrechen können, wird der Zuschauer durch die emotionale Welt der Gemeinschaft geführt, immer unter Spannung gehalten und doch auch auf eine Traumreise mitgenommen. Dieser Film ist für mich tatsächlich ein Märchen, das die widersprüchlichen, ignoranten und auch menschenverachtenden Aspekte unserer Kultur anspricht, ohne eine andere grundsätzlich für besser zu erklären. Mit anderen Worten: Dieser Film ist gut, aber eben kein Horrorfilm und mit „Mystery“ hat er für mich auch nicht viel am Hut. Er hinterlässt kein Gefühl der Angst, auch wenn man sich zwischendurch geekelt hat, sondern eines der inneren Einkehr. 

 

Man verzeihe mir, wenn Leser, die den Film noch nicht gesehen haben, diese Review an der einen oder anderen Stelle als etwas kryptisch empfinden. Aber ich möchte niemandem die Möglichkeit nehmen, den Film so unvoreingenommen wie möglich  zu sehen. Denn ich glaube, dass er, gerade für die vielen „Danis“ da draußen, ob männlich oder weiblich, ganz eigene individuelle Einblicke verspricht. Insgesamt auf jeden Fall sehenswert! (gepostet: 7.10.2019)