Ein Gastbeitrag von Freya Pauluschke
Freya Pauluschke studiert Kunstwissenschaft und Anglophone Studies an der Universität Duisburg-Essen und hat im letzten Wintersemester zum ersten Mal an einem Schreibseminar teilgenommen. Geschichten schreibt sie schon seit ihrer Kindheit und lässt dort besonders Ereignisse geschehen, die so in ihrem Leben nicht passieren. Dabei sind kurze Geschichten und Essays nicht die einzige Form, in der sie sich kreativ ausdrückt. Neben der Kunst ist ihre größte Passion die Musik. Sie spielt Klavier, singt und komponiert. Dabei sind ihre Liedtexte vornehmlich auf Englisch.
Ein Moment, den jeder kennt. Wenn im Kino der Abspann beginnt und das Licht langsam den Saal erhellt, versetzt es uns auf den Grund der Tatsachen. Man ist erstmal perplex und muss sich sammeln. Einen trifft die Realisation, dass man in einer anderen Welt als der diegetischen wandelt. Der Realität wird ins Auge geblickt. Die Aufhebung des Raum-Zeit-Kontinuums im Film hinterlässt Verwirrung und träumerische Abwesenheit in unseren Köpfen. Für ein, zwei Stunden haben wir im Film gelebt; uns in einer meist nicht existenten Welt bewegt und Dinge erfahren, über die wir sonst nur imaginieren.
Beim Lesen eines fesselnden Buches oder beim Schreiben entsteht ein ähnlicher Film vor dem inneren Auge, wie wir ihn von der Leinwand kennen. Mithilfe unserer einzigartigen Einbil-dungskraft beginnen wir uns, durch die Buchstaben hinweg, jede detaillierte Handlung vorzu-stellen. Wir tauchen in fremde Welten ab oder erhaschen einen Blick in andere Köpfe. Schreiben ist Tagträumen. Wie paralysiert sitzt man irgendwo; die Finger rasen über die Tastatur oder krallen sich gierig am Stift fest. Bloß keinen Gedanken verpassen. Die Augen sind aufgerissen, obwohl man nichts von dem wahrnimmt, was tatsächlich vor einem ist. Vor dem Auge spielt sich etwas Magisches ab. Während man physisch in der Realität existiert, im Hier und Jetzt, reisen die Augen durch Zeit und Raum, gesteuert vom Geist. Wir entfliehen der Realität. Wir entfliehen dem Alltag; den öden, sich sisyphusartig wiederholenden Routinen des Lebens.
Manch einer würde sagen, das Leben sei langweilig, wenn es sich nur im Kreis dreht, aus Rou-tinen besteht und der Alltag vergeht. Doch Alltag und Norm sind das was wir brauchen, das was wir in und auswendig kennen müssen, um etwas zu erzählen zu haben. Der typische lästige Montagmorgen kann der Beginn einer abenteuerlichen Geschichte sein. Alltag und Norm bilden den Käfig, aus dem wir ausbrechen wollen. Wir schreiben, um zu rebellieren und jede mögliche Alternative zum uns bekannten Alltag ausmalen zu können. Es werden Utopien geschaffen.
Oft wollen wir jedoch ganz bewusst in der Realität und genau in diesem sich ewig wiederholenden Trott existieren und jede noch so störende Regung spüren. Wir wollen die Realität verarbeiten, um besser in ihr leben zu können. Doch auch dann tauchen wir ab. Wir erkunden die Welt in uns selbst. Wir vermögen Dinge zu entdecken, die wir vorher nie wahrgenommen haben, und wenn, nur unterbewusst. Schreiben ist Selbstfindung. Manchmal schreibt man, um sich seinen eigenen Gedanken überhaupt erstmal bewusst zu werden. Sobald man sich die eigenen Wörter dann vor Augen führt, wird einiges klar. Gedankenschnipsel werden sortiert, analysiert, interpretiert, ausgewertet. Im Idealfall wird ein weiteres Stück Selbst gefunden und so vervollständigt sich langsam das Puzzle.
Schreiben ist Kommunikation, eine Sprache. Wir trauen uns Dinge aufzuschreiben, die wir nicht vermögen auszusprechen. Liebesbriefe, zum Beispiel, existieren, weil man schlichtweg nicht in der Lage ist, diese Gefühle in sprechende Worte zu fassen, vor allem nicht, wenn man dem oder der Geliebten gegenübersteht. Die Gefühlslage aufzuschreiben, verschafft Zeit, darüber nachzudenken und die richtige Wortwahl zu treffen, möglicherweise sogar ein Gedicht zu verfassen, um die Emotionen durch Metaphern und Hyperbeln ansprechender auszudrücken. Wir verstecken uns hinter einer Wörterwand, einer Fassade aus Schwarz auf Weiß, papierdünn, aber dennoch massiv und tiefgründig.
Ich frage mich; wenn wir zu Schreibenden werden und Figuren erschaffen, reflektieren wir uns dann selbst? Besitzt der Protagonist automatisch Charaktereigenschaften und Gewohnheiten, welche wir in uns selbst wiederfinden können? Verarbeiten wir damit unser eigenes Leben, indem wir ein neues kreieren, was möglicherweise besser, schöner, sogar perfekt ist? Dichten wir uns die Menschen dazu, die uns in der Realität fehlen, die wir uns wünschen? Die Menschheit hat Unglaubliches hervorgebracht. Und trotzdem sind wir alle mal unzufrieden. Unsere Welt, unsere Geschichte entwickelt sich immer mehr zu einer Dystopie, was wir uns jedoch täglich realistisch vor Augen führen müssen: die Wahrheit dokumentieren, aus Fehlern lernen, sich selbst finden und erfinden. Schreiben ermöglicht aber auch im Surrealismus, in Träumen, Wünschen und Idealen zu verschwinden, ein Leben in Ekstase. Schreiben ist Abtauchen. (gepostet: 11. März 2022)