Hereditary - Das Vermächtnis        (Filmstart: 14.6.2018)

Quelle: www.filmstarts.de
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Über Vorschusslorbeeren könnte sich der gerade einmal dreißigjährige Regisseur Ari Aster bei seinem Spielfilmdebüt nicht beschweren. In Deutschland schreiben alle großen Feuilletons über ihn und bei Spiegel-Online ist zu lesen, dass „Hereditary“ bereits anderorts als der beste Horrorfilm des Jahrzehnts gefeiert wird. Nun lässt man natürlich im Gazettenwald häufiger als einmal pro Jahrzehnt einen solchen Aufschrei los, eher so ein- bis zweimal im Jahr, vielversprechend klingt das dennoch. Denn Horrorfilme können so viel mehr als erschrecken. Sie können Furcht einflößen, schockieren, terrorisieren, auch lange nachdem man den Kinosaal verlassen hat. So ging ich gestern gespannt in die Premiere im UCI Bochum und völlig ohne Erwartung, denn ich habe im Vorfeld keinen einzigen Trailer zu diesem Film gesehen.

 

Das Setting des Films ist zunächst unspektakulär, nämlich der Text einer simplen Todesanzeige. Ellen Graham ist gestorben und hinterlässt ihre Tochter Annie (Toni Colette), Ehemann Steve (Gabriel Byrne) sowie die Enkel Peter (Alex Wolff) und Charlie (Milly Shapiro). Schon bei der Beerdigung wird deutlich, dass es in der Familie einige Fälle von psychischen Erkrankungen gegeben hat. Als dann das Grab auch noch geschändet und die Leiche entwendet wird, sieht sich Annie in einer Sinnkrise und sucht eine Selbsthilfegruppe auf. Derart mit sich selbst beschäftigt schiebt sie die Verantwortung für ihre kleine Tochter Charlie auf ihren Sohn Peter, der sie mit zu einer Party nehmen soll. Dort geschieht etwas Fürchterliches und es beginnt ein wahrer Horrortrip für die kleine Familie. Denn Ellen hat ihnen vielmehr hinterlassen, als ihnen allen lieb sein kann.

 

Vielleicht ist „Horrorfilm des Jahrzehnts“ etwas übertrieben, aber den Namen des Regisseurs sollte man sich auf jeden Fall merken. Denn dieser Film erzählt seine Geschichte zwar in Anlehnung an einige Klassiker des Genres, verzichtet aber weitgehend auf die üblichen Eigenschaften, die eigentlich immer dieselben bleiben. Zunächst ist die Länge von über zwei Stunden durchaus ungewöhnlich, die übliche Effekthascherei und Schreckmomente werden zwar immer wieder angedeutet, aber anders als üblich umgesetzt. Anders gesagt: Der Film kommt gänzlich ohne Jump-Scares aus. Damit nehme ich nicht zu viel vorweg, denn was man stattdessen bei den Kamerafahrten durch das Haus der Grahams sieht, teilweise beiläufig und ohne Unterbrechung, ist Grusel genug. Zudem lässt sich der Regisseur Zeit, die Stimmung zu etablieren, so dass anfangs höchstens das skurrile Verhalten von Tochter Charlie für Interesse (und etwas Grusel) sorgen kann. Aber spätestens nach der Party hat man das Gefühl, dass etwas unerhört Grausiges im Untergrund lauert und alle Familienmitglieder davon bedroht oder vereinnahmt sind. Aster hat tolle Schauspieler engagiert und das weiß er. Er lässt sie sich fürchten, leiden, sorgen oder in ihrer Ausweglosigkeit einfach nur konsterniert dasitzen. Alles hat seine Wirkung. Dann immer wieder dieses Haus, in das man irgendwann nicht einmal mehr als Kinozuschauer hinein will, weil man teilweise durch die simpelsten Alltagsgegenstände immer daran erinnert wird, dass dort etwas lauert. Und schließlich gibt es diese Momente, in denen man einfach nur mit offenem Mund dasitzt und sich denkt: „Das ist jetzt gerade nicht passiert, oder?“.

 

Ich verrate mit Absicht so gut wie nichts von der Geschichte und wer jetzt einfach nur Spektakuläres erwartet, wird womöglich enttäuscht werden. Auf diesen Film muss man sich einlassen. Man muss bereit sein, in der Angst der Protagonisten zu schwimmen. Dann wird die volle Wirkung der Bilder entfaltet. Interessanterweise wurde im Kinosaal während der Vorstellung sogar mehr ungläubig gelacht als erschrocken aufgeschrien. Aber es war insgesamt über zwei Stunden mucksmäuschenstill. Bei einem Film, der weder musikalisch noch dialogisch sonderlich üppig inszeniert ist, ist das sicher sehr bemerkenswert.

 

In die Sammlung der für mich bislang besten Horrorfilme 2018, It comes at night, Ghostland und Ghost Stories, reiht sich „Hereditary“ problemlos ein. Enorm wirkungsvoll in Szene gesetzt, schauspielerisch mitreißend, nachhaltig wirkend. Man muss sich halt nur darauf einlassen, denn letztlich sind die Bilder die Stars des Films. Der „Mindfuck“ funktioniert hier über die Sinne, so dass man vielleicht wirklich eher von einem „Sensefuck“ sprechen könnte. So genießt man diesen Film am besten auf eine Art, wie sie der Regisseur auch gelegentlich suggeriert, nämlich kopflos. (gepostet: 15.6.2018)