Betende Kinder - Vom Kindheitstraum "Schreiben"

 

Ein Gastbeitrag von Maximilian Winkel

 

Maximilian Winkel, *1993, ist studierter Germanist und Historiker und lebt im Ruhrgebiet. Seit 2015 arbeitet er als Rätselautor für einen deutschlandweit aktiven Escape-Room-Betrieb und konzipierte inzwischen Rätsel und Storylines für dutzende Online-Escape-Spiele, Outdoor-Abenteuer und klassische Live-Escape-Rooms. Nach pseudonymisierten Ausflügen ins Selfpublishing richtet sich der mittelfristige Blick auf ein Debüt, das diese Bezeichnung verdient (und deshalb viel Arbeit verlangt). 

 Foto: Maximilian Winkel

 

Schenkt man Autor:innen Glauben (was stets mit Vorsicht getan werden sollte), dann drängte sich ihnen der Traum vom Schriftsteller:innen-Dasein wohl überwiegend im Kindes-, spätestens Jugendalter auf; jedenfalls liest man’s so und ähnlich in zahllosen Kurzvitas vom Selfpublishing bis zum „Literaturhaus“-Betrieb. Ebenso fand sich in meinen Werbetexten einmal die kaum überraschende und wenig kreative Erzählung vom Kindheitswunsch. Doch so ausgelutscht und floskelhaft es klingt, so wenig es die potentielle, auf mitreißende Pitches und aufregende Cover fixierte Leserschaft aufhorchen lässt, so ehrlich meinte ich’s. In diesem Fall glaube ich ihnen also, den Autor:innen. Und sollte es doch gelogen sein, ist mir die Lüge gut genug. Denn ich kann sie verteidigen, nicht zuletzt biographisch.

 

Was taten wir in der Kindheit, das uns freiwillig in die Selbstknechtung des tage- und nächtelangen einsamen Geklappers auf alten Laptoptastaturen trieb? Welcher Fehlschluss ließ uns meinen, die schriftstellerische Weltentfremdung sei ein erstrebenswerter Zustand? Welcher Irrglaube erweckte in uns die Hoffnung, vom Schreiben zu leben sei ehrlich und gut, fern der marktökonomischen Erpressungstechniken, die jede moderne Arbeit in eine ausbeuterische Farce verwandeln?

Vorsicht, Fangfrage. Natürlich waren wir längst verdorben, als uns der erste Gedanke an den eigenen Federkiel kam.

 

Denn vor allem lasen wir. Möglicherweise mit Taschenlampe unter der Bettdecke, vielleicht in der hintersten Ecke der Schulbücherei, beim Warten auf Busse und Bahnen, in den Ferien prinzipientreu von Sonnenauf- bis Untergang. Wir lasen in echten Büchern aus totem Baum, trockenen Auges und flach atmend blätterten die Seiten in Daumenkinogeschwindigkeit. Lesen war essen, atmen, beten (Und ist es hoffentlich noch immer, wenigstens manchmal).

Ich behaupte also, nicht gerade weltbewegend: Die meisten beginnen ihren Weg zur Schriftstellerei mit dem Lesen. Wem das zu banal ist, der bedenke, dass das Lesen im Dialog des Schreibens die Antwort darstellt. Die uns vorangegangenen Erzähler:innen beginnen das Gespräch; als Kinder lernen wir, zu erwidern.

 

Zuhause antwortete ich lesend, in der Kirche antwortete ich betend. Da ist es also, das Beten. Dabei bin ich kein religiöser Mensch. Als Schüler eines Klostergymnasiums erwuchs sich der im Kindesalter anerzogene Anstand („Auf dem Dorf macht man’s halt so“) zur schulischen Pflicht, die ich erst mit dem Abschluss ablegte. Aber ich nenne mich einen Schriftsteller, mit allem, was dazu gehört: Momente der irren Hybris, in denen ich meine, noch nie habe jemand etwas Besseres zu Papier gebracht und Momente der lebensmüden Verzweiflung, in denen ich das bloße Halten eines Stiftes schon für ein Sakrileg gegen die Literatur halte, das mit endloser Pein bestraft gehört.

Man merkt, es ist mir heilig, das Schreiben. Und ob sie’s wissen oder nicht, das dürfte es vielen Schreibenden sein.

 

Für meine Anmaßung, das leere Blatt mit Wörtern zu füllen und es zu allem Überfluss auch noch anderen vorzulegen, im Größenwahn begriffen, es sei die Lektüre wert, verlange ich mir selbst eine gute Begründung ab. Je älter ich werde, desto besser muss sie sein – denn desto mehr las ich und desto mehr gute Begründungen kenne ich bereits.

 

Wer einhundert Kirchenmessen besucht, der verpasst keinen Einsatz mehr – kein Haltungswechsel zwischen Stehen und Sitzen, kein „Amen“ und kein Kreuzzeichen –, der beherrscht den klerikalen Rhythmus wie einen im Muskelgedächtnis verankerten Tanz. Aber eine Messe halten, das Wort Gottes verkünden und der Herde die Grenze zwischen Gut und Böse darlegen, das kann er nicht, unser eifriger Messegänger. Viele mögen’s sich ungeprüft zutrauen, aber es erfordert Mut, denn da ist die Angst, Fragen zu stellen. Es erfordert schmerzhafte Nähe zu allen Belangen des Lebens (besonders den stinkenden, faulenden, herzzerreißenden) und so groß die Distanz zum eigenen Werk auch ist, um den Schwingen der Selbstzweifel etwas vom tragenden Wind zu nehmen, sie werden auch so genug Auftrieb finden.

 

Im Schreiben stelle ich (noch einmal die) Fragen, auf die ich bereits vor Jahrzehnten Antworten wusste. Die Gemeinde leitet die Messe nicht, sie lässt sich führen. Und die gewohnte Routine würde es einem Kirchgänger oder einer Kirchgängerin sicher ebenso erschweren, sich selbst einmal auf die Kanzel zu erheben und zu predigen, wie erleichtern. Volle Gläser neigen dazu, beim Nachschenken überzulaufen. Aber das Gebet erfüllt noch einen anderen Zweck, manche mögen’s mir bereits mit pochender Wutader entgegengeworfen haben. „Beten heißt, sich an IHN zu richten. Beten meint das Gespräch mit Gott.“ Andere sehen es als selbstreflexive Übung: „Beten meint das Gespräch mit sich selbst. Beten ist Meditation.“

 

An wen es auch gerichtet sei – anscheinend spielen wir doch nicht bloß Antworten zurück. Eröffnen wir ebenfalls Gespräche, beim Beten, beim Lesen? Als Kinder tun wir’s jedenfalls. Wir fragen Gott im stillen Gebet, wir befragen unsere schreibenden, größtenteils toten Vorbilder in der Lektüre. Bekommen wir eine Antwort? Und wenn ja, wo? Im Text, also in der Bibel bzw. in Huckleberry Finn? Im Alten Testament oder in Der Graf von Monte Christo? Bei Matthäus, Markus, Lukas und Johannes oder bei Poe, Austen, Atwood und Orwell?

 

Oder …

 

Beten und lesen und predigen und schreiben wir und öffnen dann unsere Tür, um die Welt der Begriffe zu verlassen und die Welt zwischen ihnen zu erkunden, und sehen etwas im Flügelschlag einer unbekümmerten Elster, hören es im Blätterrauschen einer vollbelaubten Rotbuche, riechen es in der öligen, harzigen Schwere eines Waldes und spüren es in den Sonnensprenkeln, die unsere Haut überziehen wie die Fellmusterung einer Großkatze?

 

„Etwas?“, fragt ihr. „Was ist das?“

 

Gute Frage, die nach einer guten Antwort oder einem guten Gebet verlangt – nach einer guten Begründung. Etwas ist das, meine ich, wofür der Mensch niemals genügend Begriffe gefunden haben wird. Aber ein paar mehr werden nicht schaden. Also gelobt, ihr betenden Kinder, zu lesen, was es wert war, auf toten Baum gedruckt zu werden, und zu schreiben, was es wert ist, euer Leben zu überdauern, und in der Welt zwischen den Begriffen euren Blick nicht abzuwenden, um das Gespräch über das Gesehene eröffnen zu können. Und möglicherweise wird das Kind eines Tages euch befragen und euch Antwort geben und euch euer Etwas abkaufen oder es bestreiten, und im richtigen Alter wird es in die Kurzvita schreiben, es habe in der Grundschule schon Autor:in werden wollen, und sich später dafür schämen, aber es ernstgemeint haben.

 

 Vielen Dank, Max, für diesen persönlichen Einblick in Deine Gefühlswelt rundum das Schreiben. Ich bin sicher, es geht vielen Anderen auch so. (gepostet: 21. Juli 2023)