Nachruf auf meinen Vater Wolfgang Krumm (22.1.1943-7.1.2025)

Vor fast genau 12 Jahren feierten wir zusammen mit Papa seinen 70. Geburtstag. Zu Beginn der Feier hielt er eine kleine Rede, in der er den versammelten Gästen sagte, dass er jetzt an der Dialyse sei und damit gut klarkomme. Dies war ihm sehr wichtig, denn er wollte, dass sein Geburtstag fröhlich, ausgelassen und harmonisch gefeiert wird. Die Gäste sollten nicht über seinen Gesundheitszustand diskutieren. Mein Papa liebte fröhliche Feiern, ausgelassene Feste, liebte es, wenn die ihm wichtigen Menschen sich in seiner Gegenwart wohl fühlten. Ich bin mir sicher, dass er auch heute hier vortreten und versöhnliche Worte an Euch alle richten würde, damit diese Zusammenkunft nicht von Gram und Traurigkeit überschattet wird. Da es ihm physisch nun einmal nicht möglich ist, diese Worte an Euch zu richten, übernehme ich mit Freude und Stolz diese Aufgabe.

 

Die Rede auf seinem 70. Geburtstag ist ein Ereignis, an das ich voller Bewunderung für ihn zurückdenke. Denn in dieser vermeintlich kleinen Geste entdecke ich viele wunderbare Eigenschaften von Papa. Er war kein Mensch, der sich bei der Ausrichtung solcher Feste darüber Gedanken machte, ob jedes Detail stimmt. Er wusste genau, was ihm wichtig ist. Seine Gleichgültigkeit gegenüber der Erfüllung spießbürgerlicher Normen erkenne ich schon daran, dass er nicht ein einziges Mal im Vater-Sohn-Gespräch den Satz sagte: Das macht man nun einmal so. Er wusste alles, was er wollte, stets gut zu begründen. Wenn er auch für seine Arbeit als Angestellter und Filialleiter bei der Deutschen Bank stets in Anzug und Krawatte auftrat, spiegelte dies doch nur sein Bewusstsein wider, dass ihm seine Arbeit wichtig und wertvoll war. Sobald er frei hatte, streifte er den Anzug ab und war für seine Familie der Papa, für seine Freunde im Tennisclub und im Urlaub der „Puffi“ oder schlicht Wolfgang. Hinzu kam, dass sein Wertverständnis von einem Begriff maßgeblich geprägt war: Respekt. Respekt hatte man für ihn nicht vor Normen oder Gepflogenheiten, nicht vor Auszeichnungen oder akademischen Titeln, sondern ausschließlich vor Menschen. Er brachte mir bei, dass nichts zählt, solange es keinen zwischenmenschlichen Respekt gibt. So erinnere ich mich an den Tag, als ich in der Nachprüfung ganz knapp mein Abitur bestand, was in vielen Familien sicherlich nicht mehr als ein müdes Lächeln hervorgerufen hätte. Ich dagegen rief Papa in der Bank an, erzählte ihm von meiner bestandenen Prüfung und hörte im nächsten Moment ihn und dazu sämtliche seiner Mitarbeiter jubeln über meine Leistung. Mein Papa war stolz, dass sein Sohn ein 3,5er-Abitur hingelegt hatte. Genau das war die Art, wie er Respekt abseits jeglicher gesellschaftlichen Normen verstand. Und das war ihm sehr wichtig.

 

Dass er sich an seinem 70. Geburtstag selbst an seine Gäste wandte, zeugt ebenso von seinem tief verwurzelten Gefühl für Verantwortung. Vordergründig lässt sich dies besonders an seinem Engagement abseits seines Berufs erkennen. Stets übernahm er in seinen Vereinen Ehrenämter, auch wenn diese zeitaufwendig waren. Als Vorsitzender sicherte er den Fortbestand „seines“ Tennisclubs durch eine Fusion und bescherte den Mitgliedern zugleich ein schönes neues Zuhause im Krefelder Stadtwald. Nach dem Ende seines Berufslebens engagierte er sich, so lange dies seine Gesundheit zuließ, für die Krefelder Tafel. Doch das Gefühl von Verantwortung galt in erster Linie seiner Frau und seinen Kindern.  Den eben schon erwähnten Stolz auf mein Abitur empfand er natürlich in gleicher Weise gegenüber meiner Schwester Verena. Sie ist in gewisser Hinsicht in seine Fußstapfen getreten, machte ihren Schulabschluss, eine Ausbildung als Erzieherin und fand darin ebenso eine erfüllende Arbeit, wie er sie bei der Bank hatte. Ich glaube, die Art und Weise, wie meine Schwester ihr Leben organisierte, gab ihm gerade in schwachen Momenten stets die Gewissheit, dass auch er sich richtig entschieden hatte. Es zeigt darüber hinaus, dass sein Gefühl für Verantwortung genau darauf abzielte, dass seine Familie ein glückliches Leben haben sollte. Er bewertete niemals die Art und Weise, womit wir das taten. Verena dankte es ihm unter anderem, indem sie zu den Orten in Japan reiste, wo er geboren war, ihm Fotos zeigte und davon erzählte. Niemals konnte es auch nur irgendeinen Zweifel geben, dass er auf seine Kinder gleichermaßen stolz ist. Für seine Frau Bärbel wollte er stets eine Stütze sein. Vielleicht versäumte er es im Alltag manchmal, ihr zu sagen, dass er dies besonders wollte, weil sie für ihn die unverzichtbare Stütze in seinem Leben war. Ohne ihr Engagement, ihre Loyalität, ihre Zuverlässigkeit und ihre Liebe hätte er niemals dieses Familienglück empfinden können, das seinen Alltag so lebenswert machte. Auch wenn ihr manchmal zu glauben schwer fällt, aber Papa bewunderte seine Frau besonders für ihre Stärke. Für ihn blieb sie bis zuletzt der wunderbarste Mensch, den er je in seinem Leben getroffen hat. Sie hat es ihm mit ihrem unermüdlichen Einsatz ermöglicht, die überwiegende Zeit seiner letzten Jahre und besonders die schweren letzten Monate in seinem geliebten Zuhause verbringen zu können. So hielt er so lange durch, bis er sich von allen seinen Liebsten gebührend verabschiedet hatte. Sein Werk war getan, seine Verantwortlichkeit erfüllt. Seine Frau Barbara Krumm hat es ihm ermöglicht, in Frieden zu gehen und das ist das größte Geschenk, das ein Mensch einem anderen machen kann.

 

Doch Respekt und Verantwortungsgefühl allein hätten Papa nicht dazu bewogen, an seinem Geburtstag den versammelten Gästen zu erzählen, dass er jetzt zwar an der Dialyse sei, dass er es aber als nicht so schlimm empfinde. „Ich fahre dreimal die Woche dahin, kriege sogar Kaffee und Brötchen, sitze ein paar Stunden da und den Rest der Zeit habe ich frei“, sagte er sinngemäß. Daraus sprach ebenso die Liebe zu seinen Mitmenschen, die ihn immer ausgezeichnet hat. Natürlich verlief sein Leben nicht konfliktfrei, bei wem ist das schon so? Aber Streit und Zwietracht belasteten ihn stets. Im Kreis der engsten Familie konnte er Zwistigkeiten keine fünf Minuten ertragen, müsste alles umgehend klären. Harmonie war für ihn sehr wichtig. Er konnte sie auch genießen, wenn sie einfach nur um ihn herum war, ohne sich daran zu beteiligen. Wenn der kleine, im Krummschen Zweig der Familie typische Gefühlsvulkan brodelte, zähmte er ihn besonders mit Klavier spielen, mit Bundesligaspielen im Fernsehen, zuweilen auch mit klassischer Musik oder Abba. Ruhe und Ausgelassenheit unter seinen Mitmenschen, das war die Basis für seine Zufriedenheit. Allein war er selten gerne. An dieser Stelle sei besonders dem uns unbekannten Menschen gedankt, der zu günstiger Zeit in eine Organspende einwilligte. Seine Mitmenschlichkeit ermöglichte es Papa und uns, das familiäre Zusammensein noch viele Jahre zu genießen. Allein fühlte er sich nur in manchen Momenten, da er an die vielen alten Freunde dachte, in deren Leben er und seine gesundheitliche Situation offenbar nicht mehr passten. Umso stolzer war er auf unseren Zusammenhalt innerhalb der Familie, auf das tolle Verhältnis, das er mit uns, aber auch meine Mutter, meine Schwester und ich untereinander pflegen. Entsprechend herzlich empfing er meine Frau Katharina in unserem Kreis und führte auch mit ihr ein sehr persönliches Gespräch zum Abschied. Nun hält er Zusammenkunft mit den anderen verstorbenen Mitgliedern seiner Familie. Da haben besonders er und sein Bruder Fritz Krumm, mit dem trotz tiefer Zuneigung ein inniges Verhältnis nie so recht zustande kommen wollte, viel Zeit, eventuell Versäumtes nachzuholen. Seine Eltern haben jetzt die Gelegenheit, ihm zu sagen, wie unendlich stolz sie auf ihn sind, eine Sache, die zu glauben ihm zu Lebzeiten manchmal schwerfiel.

 

In den Minuten, da er jene Rede auf seinem 70. Geburtstag hielt, konnte man ihm ansehen, dass er sich wie zuhause fühlte. Seine Heimatverbundenheit ist die finale Eigenschaft, die ich in seinen Worten entdeckte. Die Menschen, die ihm wichtig waren, versammelt an einem Ort, der ihm viel bedeutete. Obwohl er fast sein ganzes Leben in Krefeld wohnte, war Heimat für ihn weniger ein Ort, sondern vielmehr ein Gefühl, das er an unterschiedlichen Orten haben konnte. Dafür sorgte wohl nicht zuletzt der Umstand, dass er im japanischen Kobe geboren und als kleines Kind mitgenommen wurde, als seine Eltern zurück nach Deutschland übersiedeln mussten. Als er nach 40 Jahren von der Bismarckstraße zum Stippergath ziehen musste, setzte er sich in seinem neuen Zuhause in seinen Sessel und sagte: „Hier bleibe ich“. Er hat die Heimat auch dort sofort gefühlt, nicht zuletzt, weil es ganz nah bei seiner Lieblingscousine Marianne und ihrer Familie war. Vielleicht kaufte er deswegen kein Haus für sich und seine Familie. Er brauchte es nicht, um sich zuhause zu fühlen. Die Bismarckstraße, der Stippergath, die Bank, der Tennisclub, Oberbozen, der Thumsee und Grömitz waren alle gleichsam seine Heimat. Mein Papa war kein Vertriebener wie so viele Menschen in Deutschland. Mein Papa war immer ein Angekommener.    

 

So kann ich Euch versichern, dass ich in diesem Augenblick, da ich hier stehe, trotz des traurigen Anlasses, nicht in erster Linie Traurigkeit verspüre. Ich weiß, auch dort, wo er jetzt hingeht, wird er ein Angekommener sein. Ich spüre tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich so lange einen so tollen Papa erleben durfte. In unserem letzten Gespräch sagte ich ihm, dass ich so viele große Philosophen und Denker studiert habe und dass ich trotzdem alles, was für mein Leben wichtig ist, von ihm gelernt habe. Er hat mir so viel gegeben, dass er mich für immer begleiten wird.    

 

Was würde er also zu Euch sagen, wenn es ihm jetzt möglich wäre?

 

Er würde sagen, dass jener Ort, an dem er sich jetzt befindet, sich anfühlt, als wäre jeder und alles, was er jemals geliebt hat, permanent um ihn herum versammelt. Er hat keine Sorgen mehr, keine Schmerzen mehr und schaut auf uns mit Freude und Dankbarkeit für sein Leben, vielleicht manchmal auch mit ein wenig Unverständnis für unsere irdischen Belastungen, die wir uns oft nur selbst auferlegen.

 

Er würde sagen: „Mir geht es gut. Ich habe hier alles, was ich brauche. Macht Euch keine Sorgen. Ich will nicht, dass es Euch meinetwegen schlecht geht. Und ich freue mich schon darauf, Euch alle irgendwann wiederzusehen.“ 

 

Ich bin mir sicher, wenn ihr ihm noch eine Freude machen wollt, geht das ganz einfach: Denkt an ihn, teilt schöne Erinnerungen, lacht und freut Euch über die Menschen, die um Euch sind. Und in diesem Sinne möchte ich mit dem Zitat eines Literaten schließen, den mein Papa ob seiner Wortgewandtheit Zeit seines Lebens bewunderte und der der einzige Mensch war, von dem er jemals freiwillig ein Buch besessen hat:

 

„Wenn ich einmal traurig bin, trink ich einen Korn, und wenn ich dann noch traurig bin, trink ich noch n Korn, und wenn ich dann noch traurig bin, dann trink ich noch n Korn und wenn ich dann noch traurig bin, dann fang ich an von vorn.“

 

Ach übrigens: Gejodelt hat Papa auch sehr gern.