Dream Theater - A dramatic turn of events (2011)

 

1. On the backs of angels

2. Build me up, break me down

3. Lost not forgotten

4. This is the life

5. Bridges in the sky

6. Outcry

7. Far from heaven

8. Breaking all illusions

9. Beneath the surface

 

 

Es tut mir leid. Es tut mir wirklich so leid. Wirklich leid. Hab ich schon gesagt, dass es mir leid tut? Über viele Jahre hat mich das Schlagzeugspiel von Mike Portnoy begleitet, inspiriert, gefesselt, in neue Dimensionen der Rhythmen getragen, gerade weil ich auch selbst Schlagzeug spiele. Und das Lieblingsalbum, das ich auf meiner Homepage vorstelle, ist ausgerechnet das erste von Dream Theater ohne ihn. Aber ich kann das erklären, zumal ich bei nicht wenigen Anhängern auf Unverständnis stoßen werde, angesichts der Auswahl an hervorragenden Alben der Band. Ich kann erklären, warum ich nicht ein anderes meiner Lieblingsalben ausgewählt habe: „When dream and day unite“, „Images and words“, „Metropolis II – Scenes from my memory“, „Six degrees of inner turbulence“ oder „Black clouds and silver linings“. Es liegt an dem einfachen Gefühl, dass über „A dramatic turn of events“ immer noch der Geist des grandiosen Ex-Schlagzeugers schwebt, weil sein Nachfolger Mike Mangini ja erst später dazu stieß. In der Produktion allerdings fanden sich die Bandmitglieder frei von diversen Facetten der Persönlichkeit Portnoys, die meines Gefühls nach für die Band immer mehr zu Einschränkungen wurden: Seine obligatorischen Gesangsparts, sein sehr ausgeprägter Hang zu Heavy Metal und überhaupt seine sehr kategorische Vorstellung über den Sound von Dream Theater. Dabei bestärkten mich in diesem Gefühl besonders zwei Erlebnisse: Das letzte Konzert mit Portnoy und das erste Konzert ohne ihn, bei dem ich Gast war. Der Unterschied in Bezug auf Esprit, Spielfreude, Originalität und Faszination hätte nur größer sein können, wenn es sich um zwei verschiedene Bands gehandelt hätte. Nach „A dramatic turn of events“, als der von mir ebenfalls hoch geschätzte Mangini das erste Mal in den vollständigen Produktionsprozess involviert war, haben mir die Alben zwar auch gefallen (so zum Beispiel beschrieben in meiner Rezension zum Album "Dream Theater" bei Metal Viecher), aber der Genius war nicht mehr so deutlich spürbar. Dafür wirkten sie eine Spur zu konzipiert.

 

Was das alles mit meinem Schreiben zu tun hat, dem ich ja auch diese Musikrubrik gewidmet habe? Ganz einfach. Eines meiner höchsten Ziele als Autor ist es, einmal eine Geschichte zu schreiben, die in der Lage ist, den Leser derartig mitzunehmen, zu packen, zu rühren und in eine neue Dimension des Geistes zu führen, wie es dieses Album bei mir getan hat. Daran arbeite ich täglich und vielleicht kann ich es in ferner Zukunft irgendwann einmal erreichen.

 

Dabei geht es eigentlich recht undramatisch los. „On the backs of angels“ gehört zu der Gruppe von Liedern, in der die Band um eine gewisse single-taugliche Eingängigkeit bemüht ist. Das ist eigentlich nicht schlecht (außer bei „As I am“, den Song hasse ich bis heute), hat auch in der Vergangenheit einige echte Ohrwürmer hervorgebracht wie "Afterlife", „Pull me under“, „Under a glass moon“, „6:00“ oder „Caught in a web“. Aber für mich ist es ungefähr so spannend wie Usain Bolt beim Gehen zuzusehen. Die können doch eigentlich so viel mehr. Das zweite Lied „Build me up, break me down“ haut in gewisser Weise noch in dieselbe Kerbe. Beide Songs sind auf ihre Art cool, aber werden von mir meistens übergangen angesichts dessen, was danach folgt. 

 

Ich gehöre ja zu den Fans, die beim Kauf des neuen Dream-Theater-Albums erst einmal auf die Spielzeiten der einzelnen Songs schauen und sich über jeden freuen, der über zehn Minuten dauert. Davon hat dieses Album vier und den Reigen beginnt „Lost not forgotten“. Da zeigen sie schon im Intro, dass die Genialität der Arrangements, die die oben genannten Klassiker hervorgebracht hat, kein Glückstreffer ist. Motto:

Wartet mal, wir spielen mal eben 90% der erfolgreicheren Bands an die Wand, um dann das, was sie können, noch ein kleines bisschen besser zu machen. Und obwohl es Strophen gibt, arrangieren wir jede anders und fügen jeder noch eine Prise mehr Eingängigkeit hinzu. Die Erwartung an einen Zehn-Minuten-Song, dass er zwischendurch ein fulminantes Instrumentalfeuerwerk enthält, erfüllen wir selbstredend auch.

Unter den Liedern, die so sind, ist „Lost not forgotten“ sicher nicht das ultimative. Aber es ist einfach wunderbar zu hören, dass die Band sowas immer wieder kann und will.

 

Ich möchte einmal behaupten, dass dem durchschnittlichen Dream-Theater-Fan ein gewisser Hang zu Kitsch durchaus innewohnt, zumindest von außen betrachtet. Und ja, das vierte Lied „This is the life“ bedient wohl genau diese Eigenschaft. Aber mal ehrlich, wenn ich auf diese wunderbare Art vermittelt bekomme, dass das Leben doch eigentlich schön und ein Geschenk ist, verbunden mit der Aufforderung, einfach nur „ich selbst“ zu sein, ist mir doch egal, ob Leute das als kitschig empfinden. Meine Stimmung hat es schon in vielen Lebenssituationen gesteigert, in denen ich es wirklich nötig hatte.

 

Aber wie erreicht man dieses Ich-selbst-Sein? Die Antwort darauf gibt der folgende heimliche Titelsong. Heimlich, weil das Album wohl tatsächlich „Bridges in the sky“ heißen sollte, bevor es den jetzigen, auf den Ausstieg Portnoys bezogenen Titel bekommen hat (Das bestritt Jordan Rudess zwar in einem Interview, aber da kann man mir viel erzählen). Eine magische Zeremonie, vermutlich indianisch, wird beschrieben, eine Reise zu sich selbst. Ob man dieses Prozedere jetzt gut findet oder nicht, den folgenden Zeilen kann ich extrem viel abgewinnen: „And at last the time has come, to unite again as one, to the power of the earth I’m calling, crossing bridges in the sky, on a journey to renew my life“. Mehr brauche ich eigentlich nicht. Aber es kommt hinzu, dass “Bridges in the sky” für mich eins der bislang drei perfekten Lieder der Band ist neben “Metropolis I “ und “Home”. Das sind Lieder, die mit der ersten Sekunde eine unglaubliche Intensität aufbauen und diese immer in kleinen Häppchen bis zum Ende noch steigern könnte, so dass die Perfektion mit jedem Wimperschlag eine neue Definition bekommt. Treibend, mitreißend, die ultimative Fusion aus eingängig und anspruchsvoll, so dass die zwölf Minuten einem wie drei Minuten vorkommen.  

 

Nach dieser Offenbarung kann das folgende Lied eigentlich nur verlieren. Das tut es auch, obwohl „Outcry“ wie eine durchaus ansprechende Neuinterpretation von „Metropolis I“ daherkommt. Aber zwei perfekte Songs auf einem Album? Das hat selbst diese Band noch nicht geschafft. Einige wunderbar eingängige Passagen hat es, der Instumentalteil steht in der Tradition des Klassikers, aber der Refrain und das Ende gehören nicht zu den besten Melodien, die die Band auf Lager hat. Zudem ist der Text, der einen augenscheinlich x-beliebigen Kampf um Freiheit gegen Unterdrückung beschreibt, irgendwie nicht sehr erhellend. Egal, ein Album wie „Octavarium“ oder „Systematic chaos“ hätte er trotzdem aufgewertet.

 

Neben den zwei „Singles“ und den vier Zehn-Minuten-Songs enthält „A dramatic turn of events“ zwei ruhige Stücke. Das erste ist „Far from heaven“ und wirklich keins für jede Stimmung. An das durch die Kombination von Text und Melodie aus den Boxen triefende Selbstmitleid eines den Partner verlassenden Menschen muss man sich gewöhnen. Man muss wohl solch eine Phase erst einmal selbst durchleben, um im Erlebnis des verstanden Werdens dieses Lied wertschätzen zu können. So richtig gut wird es aber, wenn man sich überlegt, das es die Gleichartigkeit der Gefühlszustände zweier sich Streitender sehr gut auf den Punkt bringt. Jeder fühlt sich kraft- und machtlos, jeder denkt, dem anderen wäre sein eigener Stolz wichtiger als die Tatsache, dass man gerade zerschlagen und mit gebrochenem Herzen vor ihm liegt. Man hat oft das Gefühl, der andere tritt immer weiter nach, bis man nicht mehr kann. Weiß nicht, ob diese Leseart bei dem Lied intendiert war, aber ich mag sie.

 

Zum gefühlten Abschluss kommt mit „Breaking all illusions“ noch einmal ein Song der Extraklasse. Thematisch erscheint es mir fast als die Fortsetzung von „Bridges in the sky“. Es treten alle Täuschungen des Lebens in den Hintergrund (und man wird eins mit dem Universum, na aus welcher Drei-Fragezeichen-Folge ist das? :-)). Was will man mehr? „Living the moment, breathing the new beginnig, wisdom reveals as I unlearned to learn“. Ich liebe diese Zeilen und überhaupt dieses ganze Thema. Es ist extrem nah an dem, was mich auch in meinen Geschichten beschäftigt. Dabei kann ich verschmerzen, dass mich das Lied nur in Teilen musikalisch mitreißen kann. Es reicht voll und ganz für das ultimative Gefühl, das diese Zeilen lebendig werden lässt und vor allem als Antwort auf die Frage, wie man so einem großartigen Album zum Ende hin noch einmal die Krone aufsetzen kann.

 

Und wie man im Kino, wenn der Film einen sehr gefesselt hat, noch beim Abspann sitzen bleibt, hört man gerne auch das letzte Lied, das zweite ruhige des Albums, mit dem Titel „Beneath the surface“. Es entlässt einen auf eine schöne Art nach den ganzen emotionalen Hochmomenten, wenig dramatisch, eigentlich total untypisch für die Band, die es gerne gerade beim letzten Song noch einmal richtig krachen lässt. Es hat vor allem den Effekt, dass im Kopf bereits die Erinnerungen an die anderen Lieder laut werden und man deswegen einfach sofort alles noch einmal von vorne haben will, wie es eben auch sein soll. Man will einfach alles noch einmal erleben.

 

Was also macht „A dramatic turn of events“ zu meiner Nummer eins? Wie geschildert ist es ja nicht einmal so, dass ich jeden Song für herausragend halte. Es ist einfach dieses absolute Ineinandergreifen aller Komponenten, die so einen wunderschönen, einheitlichen Ton ergeben, der mit nichts treffender ausgedrückt ist, als mit dem Blau des Himmels auf dem Cover. Alle Lieder vereinen sich in diesem Bild zu einer ultimativen Allegorie auf das Leben als Balanceakt in luftiger Höhe, zeitweise gefährlich, aber im Ganzen einfach nur schön und erlebenswert. Auch bei der Band spürt man diese Zwanglosigkeit, die wahrscheinlich auch aus der Spontanität, der Notwendigkeit zur Improvisation und Neuorientierung nach dem Ausstieg Portnoys, heraus entstanden ist. Es ist für mich das Ideal einer Kreation, eben weil es keinem einheitlichen Konzept folgt. Es ist das, was rauskommt, wenn man jeden Zusatz weglässt. So eine Geschichte will ich irgendwann einmal schreiben, eine Geschichte, die ganz ich ist, ganz aus mir herauskommt und das Gefühl hinterlässt, das wahre Leben berührt zu haben.