Gnadenlos

 

Eine Kurzgeschichte von Sarah Christin Diedring

 

Sarah Christin Diedring studiert Germanistik und Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und nahm im Wintersemester das erste Mal an einem Schreibseminar teil. Gerade einmal 19 Jahre alt kann sie bereits einige veröffentlichte Texte vorweisen, vornehmlich Fan-Fictions, die auf Portalen über 30000 Leser gefunden haben. Sie ist passionierte Edelstein-Sammlerin und produziert darüber hinaus inzwischen regelmäßig spannende Juwelen im Horror-Fantasy-Genre. Diese Kurzgeschichte, die sie als Abschlussaufgabe für das Seminar einreichte, ist eine davon.

 

 

 

 

 

 

Das Licht der Sonne stach mir in die Augen und zwang mich dazu, den Blick abzuwenden. In dem kleinen Raum, in dem ich die letzten Tage verbracht hatte, war es dunkel und kalt gewesen. Meine Augen waren nicht mehr an das strahlende Licht gewöhnt. Die Fesseln gruben sich in meine Haut, als ich erbarmungslos in das gleißende Licht gezogen wurde. Meinem Flehen und Wimmern wurde keine Beachtung geschenkt. Alles Zerren und Reißen war zwecklos. Die Mannschaft der Nestis war

einfach stärker als ich.

 

Achtlos warfen sie mich auf das Deck und bildeten einen Kreis um mich. Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen und betete zu meinem Gott. Leise wisperte ich das 'Vater Unser' vor mich hin und flehte ihn an, mich in seine schützenden Arme zu nehmen, in denen mir all das noch bevorstehende Leid erspart bleiben würde.

 

Ich blickte erst wieder auf, als ich Schritte auf mich zukommen hörte. Der Kapitän bahnte sich einen Weg durch die versammelte Mannschaft und blieb direkt vor mir stehen.

 

„Bitte tu das nicht,” flehte ich. Meine Stimme war heiser von den vielen Tagen, die ich stumm und fast ganz ohne Wasser in meinem Gefängnis verbracht hatte. Tränen liefen mir über die Wangen. „Bitte nicht.“

 

Der Kapitän wandte das Gesicht ab und blickte gen Himmel. Die Sonne war nun fast vollständig von bedrohlich wirkenden schwarzen Wolken verdeckt. “Ein Sturm zieht auf“, sagte er.

 

Dann sah er wieder zu mir. Sein Blick jagte mir mehr Angst ein als die der anderen. Er war nicht kalt und gnadenlos wie die seiner Mannschaft. In ihnen war Trauer und Reue. Er wusste, dass das, was gleich passieren würde, falsch war, dass er ein Verbrechen beging. Er wusste es. Das machte ihn zu einem noch größeren Monster.

 

Ich habe deinem Vater gesagt, dass er dich nicht gehen lassen sollte“, sprach er reuevoll, „Frauen an Bord bringen nur Unglück. Wenn du jemanden die Schuld geben möchtest, dann ihm und nicht mir. Er wusste von der Gefahr und hat dich trotzdem gehen lassen.”

 

Der Kapitän verschränkte die Arme, alle Schuld von sich abweisend. Er war unnachgiebig, „Nun hör auf zu weinen. Du musst es verstehen... Der Ozean ist kalt und gnadenlos. Sie lässt uns nicht ohne ein Opfer gehen.“

 

Ich wollte ihn anschreien, sie alle anschreien, dass ich kein Opfer, sondern ein Mensch war. Dass ich nicht dafür bestraft werden sollte, eine Frau zu sein. Die Wut in mir nahm unvergleichliche Ausmaße an. Ich wollte ihren Tod sehen, wünschte ihnen ein grauenhaftes Ende durch das kalte Wasser. Auf ewig gefangen in dem gleichen eisigen Grab, zu dem ich verdammt wurde. Doch meine Stimme war fort. Die lähmende Angst hatte sie mir genommen. Der aufkommende Wind, ein Vorbote des bevorstehenden Sturms, wehte mir die Haare aus dem Gesicht.

 

Drei Männer kamen auf mich zu. Ich versuchte verzweifelt, so gut es nur eben ging, weg zu robben, doch die übrigen Männer versperrten mir den Weg. Sie packten mich und schliffen mich zur Reling. Zwei banden mir die Füße zusammen, während mich ein anderer festhielt.

 

Zum Schreien hatte ich schon lange keine Kraft mehr. Stumme Tränen liefen über mein Gesicht, während ich zusah, wie diese Männer über mein Schicksal entschieden. Einer der Männer, die mir die Füße zusammengebunden hatten, leckte sich lüstern über die Lippen. Ihm schien es zu gefallen, dass ich wehrlos und gefesselt vor ihm lag. Ein Schaudern erfasste mich.

 

„Es ist bald soweit”, rief der Kapitän.

 

Ich wurde von dem lüstern dreinblickenden Mann gepackt und dankte Gott in diesem Moment dafür, dass mein Gefängnis abgeschlossen gewesen war und nur der Kapitän den Schlüssel dafür besessen hatte. Dass dem Mann meine aussichtslose Situation auch noch zu erregen schien, trieb mir nur noch mehr hilflose Tränen in meine Augen. Grob wurde ich in Richtung der Planke gezerrt.

 

Jetzt oder nie.

 

Blitzschnell drehte ich mich um und spuckte meinem Peiniger direkt in sein Gesicht. Der Speichelklumpen landete auf seiner Wange. Der Mann lief rot an, blanker Zorn blitzte in seinen Augen auf. Er griff sich ein Paddel und stach mir mehrere Male in die Seite. Ich schrie auf und wollte den schmerzhaften Stichen entkommen. Doch ich konnte mich nur weiter auf das Ende der Planke zubewegen.

 

Der Mann trieb mich vor sich her, bis zwischen mir und dem Abgrund nur noch wenige Meter waren. Ich drehte mich um und blickte dem Kapitän flehend in die Augen. Hoffte, dass er zur

Besinnung kommen würde und merkte, dass es falsch war, was er tat. Doch er wandte sich von mir ab. Ein Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem Donnergrollen. Dies musste das Zeichen sein, auf welches sie gewartet hatten. Der Kapitän hob die Hand.

 

Das hatte mein Peiniger wohl sehnlichst erwartet. Er grinste mich hämisch an. Mein Tod war sein Vergnügen. Er holte mit dem Paddel aus und schlug mir damit ins Gesicht. Schmerz explodierte hinter meinen Augen und sorgte dafür, dass ich für einige Sekunden nur noch schwarz sehen konnte. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte unter Jubel der zurückgebliebenen Mannschaft in das dunkle, tosende Wasser.

 

Der Kapitän hatte recht. Der Ozean ist kalt und gnadenlos. Kälter als alles, was ich mir je vorgestellt habe. Ich muss in der Hölle sein, denke ich, als das eisige Wasser meine Lungen füllt, sich durch meine Venen gräbt und alles erstarren lässt. Ich kann nicht mehr atmen, nicht mehr denken. Alles ist ausgefüllt mit dem eisigen Wasser, das mich immer weiter nach unten zieht.

 

Sie sagen, in den letzten Sekunden zieht das Leben an einem vorbei. Bei mir ist dies nicht der Fall. Ich bin erfüllt von Rache. Rache an den Männern, die mir das angetan haben. Der Kapitän hatte recht, der Ozean ist gnadenlos. Doch ich bin gnadenloser. Der Ozean, der eigentlich mein Mörder sein sollte, ist meine Schwester. Ich spüre, wie mich das Wasser umschmeichelt. Plötzlich fühlt es sich nicht mehr an die Umklammerung des Todes, sondern wie eine sanfte Umarmung. Eine Schwester, die ihr Fleisch und Blut beschützt.

 

Ich spüre wie mich das Wasser ausfüllt und verwandelt. Mein Körper löst sich auf. Ich bin nicht mehr Ich. Ich bin nur noch Wir. Wir sind jede Welle, jede Koralle und der Seeschaum. Das Wasser heilt mich und ich werde zu einem Teil von Ihr. Meine Beine brennen, als sie sich zusammenfügen und eins werden.

 

Als die Verwandlung vorbei ist, bin ich nackt. Doch ich fühle keine Scham. Ich bin stärker als je zuvor. Ich streichle über meine Schuppen. Sie sind so blau wie das kalte, gnadenlose Meer.

 

Der Kapitän hatte recht, als er sagte, dass das Schiff kein Ort für Mädchen ist. Dies ist der Ort für Mädchen. Für alle Mädchen denen ihre Zukunft in dem eisigen Meer genommen wurde. Und wenn ich den Kapitän in die Tiefe ziehe und seine Schreie in den Fluten ersticken, wird er merken, das Meer ist erbarmungslos, doch meine Schwestern sind schlimmer. Wir haben Salz in unserem Blut, Seewasser in unserem Herzen und den Sturm in unserer Seele. Mein Lächeln entblößt nadelspitze Zähne, als ich hinter dem Schiff her schwimme.

 

Bist du mein tapfererer Seemann hold?............

 

(gepostet: 10. März 2022)