Es gibt keine Genies

(oder nur ganz wenige ...)

Es gibt sie, die so genannten „kreativen Köpfe“, zugegeben. Aber sie sind keine Genies. Sie schaffen es einfach, eine Idee konsequent zu verfolgen, um dann aus dem Bauch heraus oder mit der Präzision eines Architekten Werke zu entwickeln, die spannend, fesselnd, vielschichtig oder auch nur ihrer Banalität genial sind. Nehmen wir Hermann Hesses „Demian“, „Die Verwirrung des Zöglings Törles“ von Robert Musil oder Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“ auf der vielschichtigen Seite, Songs wie Motörheads „Ace Of Spades“, „Insomnia“ von Faithless oder „Blitzkrieg Bop“ von den Ramones als Beispiel für simple Genialität. Was aber macht Menschen zu solch „kreativen Köpfen“? Ganz einfach, sie haben das Finden von Ideen zu einem Teil ihres Lebens gemacht. Jeder Mensch hat hundert Ideen pro Tag, die wie Fische im Strom seines Denkens einfach unbemerkt an ihm vorbeischwimmen. Die kreativen Köpfe sind die Fischer. Sie fischen jeden Tag, schnappen sich die Ideen, sichern sie, bewahren sie auf und schauen, ob und wie sie sich entwickeln. Wenn man also die Idee zu einem wirklich simplen Gitarrenriff hat, mag sie monatelang ungenutzt im Speicher verharren, bis man eine zweite total simple Idee hat, nämlich einen Song einfach mal mit den Worten „Hey ho, let’s go“ zu beginnen. Die Verbindung dieser beiden Ideen schafft einen großen Klassiker der Musikgeschichte. Aber wie funktioniert das mit den Ideen? Meiner Auffassung nach kann man das auf zwei relativ einfache Prozesse mit recht fremd klingenden Namen reduzieren: Dekonstruktion und Endfokussierung.

Dekonstruktion

Neulich saß ich im Auto in der Uni-Tiefgarage und sah für einen Moment, ich weiß selbst nicht warum, auf dieses Schild. Wohl muss ich schon mindestens fünfhundert Mal daran vorbeigefahren sein und bisher war es mir nie sonderlich aufgefallen. Die Parkplätze sind schließlich alle beschildert. Auf manchen steht „Verwaltung“ oder „Dekan“ oder auch, da wir im Haus die Redaktion von RTL West beherbergen, „Chefredakteur“. Unter diesen ganzen Zuweisungen fällt das Schild „Besucher“ nicht auf. Man sieht die anderen Schilder und denkt sich, klar dieser Parkplatz ist für Besucher. Aber wie heißt es so schön in Lars von Triers genialem Film „Dogville“: „Auf einmal änderte sich das Mondlicht und Grace sah die Bewohner mit anderen Augen.“  Besucher – das klingt nach mehr: Ungebetene Gäste, Menschen oder Wesen, die jemanden heimsuchen, vielleicht wenn er besonders wehrlos ist, Geister oder Außerirdische. Mit einem Mal wurde mir fast unheimlich, kein Mensch war in der Garage und ich saß in einer dunklen Ecke. Also fuhr ich los.

Das ist ein gutes Beispiel für eine mögliche Verbindung zwischen zwei Dingen, die zumindest ich bislang nicht miteinander verbunden hatte: Ein Parkhaus mit dem Schild „Besucher“, das nicht das ist, was es zu sein scheint, sondern etwas Anderes. Womit könnte man es verbinden? Was könnte man daraus machen? Letztlich werde ich wohl keine solche Geschichte schreiben, aber die Idee wird mich zu anderen Ideen bringen, die vielleicht viel besser sind. Nur wie ist dieser Moment der Inspiration zu Stande gekommen? Ganz einfach, durch „Dekonstruktion“. Dieses Besucherschild war bis zu dem Moment nicht einfach nur ein Schild, sondern in meinem Kopf verbunden mit einer ganzen Reihe von Assoziationen, die seine Bedeutung so stark einschränkt haben, dass ich ihm schließlich keine andere mehr zuwies als: Hier parken Besucher. Sobald diese Assoziationskette aber „dekonstruiert“, also in meinem Kopf zerbrochen war, strömten Ideen, was es noch bedeuten könnte, geradezu auf mich ein.

Endfokussierung

Ein anderer Fall: Bei meinem Roman „At Dawn They Sleep“ habe ich monatelang darüber nachgegrübelt, was eigentlich die Geschichte hinter der weiblichen Hauptfigur Maria sein könnte, der Grund, warum sie so eigenartig ist. Ich dachte mir lange Zeit, dass ihre Mutter vielleicht eine Prostituierte gewesen war. Meine Güte, was für ein Klischee! Ich fühlte mich damit nie wohl, aber ich nahm die Idee erst einmal so mit und entwickelte die Geschichte um sie herum, weil mir nichts Anderes eingefallen ist. Dann saß ich eines Vormittags am Schreibtisch und im Hintergrund lief der Song „The Six Degrees Of Inner Turbulence“ von Dream Theater. Ich hatte gerade mein Diktiergerät laufen, um eine Notiz aufzunehmen. Wie zufällig hielt ich inne und es drangen einige Zeilen dieses 45minütigen Opus an mein Ohr, ich glaube sie hießen: „And even though she seems so high, and thinks that she can fly, she will fall out oft he sky, who’ll be standing by?“ Ich sagte laut "Moment mal" und fiel einige Minuten in Schweigen. Diesen Geistesblitz habe ich tatsächlich noch als Aufnahmedatei, weil das Gerät weiterlief. Mir fiel die Geschichte wieder ein, die in diesem Lied erzählt wird und dass ich mit der gängigen Interpretation nicht einverstanden war. Für mich war diese Sache mit der Schizophrenie Unsinn und selbst wenn der Komponist selbst behauptet, es sei so, würde ich immer noch sagen, dass man aus dieser Geschichte etwas Anderes, etwas Besseres herausholen kann. Die Meinung des Verfassers über sein Werk ist schließlich auch nur eine Meinung von vielen. So schrieb ich Marias Geschichte als meine eigene Interpretation des Songs „The Six Degrees Of Inner Turbulence“ und ich bin bis heute sehr glücklich damit.

Was in diesem Moment passierte, war das Ergebnis eines Prozesses, den man „Endfokussierung“ nennen könnte. Auch hier liegt das Phänomen vor, dass zwei Dinge miteinander verbunden wurden, die bisher nicht verbunden waren, der Roman bzw. die Figur Maria und der Song bzw. sein Text. Es ist dieselbe Technik, die einem geraten wird, wenn man etwas sucht und nicht findet: Hör auf zu suchen, dann wirst Du es finden. Steht man vor einem Problem, für das man keine Lösung findet, sollte man nach einer gewissen Zeit des Nachdenkens nicht weitermachen. Diesem Drang, dass man jetzt und hier eine Lösung finden will, muss man widerstehen, denn die naheliegenden Lösungen funktionieren offenbar nicht. Man muss sich bewusst von diesem Problem ablenken, es gewissermaßen vergessen und dann, auf einmal, sieht, hört oder denkt man etwas, das beim Nachdenken so abwegig erschien oder das so naheliegend war, dass man es nicht gesehen hat. Hier sei an die schöne Geschichte „Der entwendete Brief“ von Edgar Allen Poe erinnert. Sie ist, das nur nebenbei, auch eine der besten literarischen Beispiele für logisches Denken, die ich kenne und ich benutze sie sehr häufig in Seminaren.

"The Box"

Dekonstruktion und Endfokussierung als Basis des kreativen Denkens laufen im Grunde also auf das hinaus, was man im Englischen „thinking outside the box“ nennt. Um gedanklich eben diese „Box“ zu verlassen, gibt es einige einfache Techniken, die in vielen Büchern und Seminaren zahlreiche Variationen erfahren haben und doch immer genau auf diese beiden Ziele hinauslaufen.

 

P.S.: Ich habe es bewusst vermieden, dieses Kapitel folgendermaßen zu beginnen: „Woher kommen Deine Ideen – diese Frage wird einem Autor oft gestellt“. Denn so beginnen unzählige Kapitel über dieses Thema und es langweilt mich fürchterlich. Ich hoffe, meine Variante unterhält Euch ein wenig mehr. :-)