Langweilige Hauptfiguren - Das tödlichste Gift für jede Geschichte

Der Spaziergang durch den Nebel, mit dem ich das Geschichten Schreiben vergleiche, dauert eigentlich so lange, bis das Manuskript komplett fertig ist. Anfangs ist man allerdings noch sehr vereinnahmt von dem, was man in der Geschichte nicht sehen kann. Im Laufe der Zeit lichtet sich der Nebel mehr und mehr, doch immer wieder trifft man auch auf blinde Punkte, die es noch zu füllen gilt.

 

Daher gilt für den Autor grundsätzlich: Das Wichtigste ist die Phantasie. Phantasie bewahrt uns davor, eine Manuskript zu schnell für fertig zu erklären, bringt neben den großen Ideen für unsere Geschichte eben auch die vielen faszinierenden Details zum Vorschein, die aus meiner Sicht Harry Potter immer noch so attraktiv für Leser machen. Phantasie bewahrt uns vor allem vor etwas, das ich als das tödlichste Gift für eine Geschichte bezeichnen würde: Eine langweilige Hauptfigur.

 

Aber was müssen wir tun, wie, wo und in welcher Form Phantasie einsetzen, damit unsere Hauptfigur zu einem Freund, Wegbegleiter, zu einem zwischenzeitlichen Lebensinhalt für den Leser wird? Hierfür gibt es meiner Meinung nach (mindestens) fünf Punkte, die weiterhelfen und die ich im Folgenden vorstellen möchte. 


1 Der Konflikt – Wer spannend sein will, muss leiden

Einer der häufigsten Anfängerfehler beim Geschichten Schreiben ist die Schonung des Protagonisten. Wir wollen unsere Hauptfigur möglichst lebendig schildern, daher versetzen wir uns in sie hinein. Ein unschöner Effekt dieser Herangehensweise ist, dass wir uns oft nicht trauen, den Protagonisten, wie man auf Deutsch sagt, so richtig in die Scheiße zu reiten. Das kann ich ihr/ihm nicht antun, denken wir uns, es geht ihr/ihm auch so schon schlecht genug. Doch die grausame Wahrheit ist: Damit die Geschichte spannend wird, muss der Protagonist leiden. Das bringt uns in eine Auseinandersetzung mit den Grundfesten seines Charakters und zu der Frage: Was wäre das Schlimmste, was ihm passieren könnte? Und auch das ist sehr gut für die Geschichte, denn diese Gedanken bieten eine Vielzahl spannender Ideen. Allein schon der Hauptkonflikt sollte sich an dieser Frage entlanghangeln. Und wie im richtigen Leben gibt es auch hier immer Steigerungen.

2 Exzentrik - Weg von der Mitte der Gesellschaft

Natürlich steckt in jeder Figur einer Geschichte auch etwas von uns. Doch das bedeutet nicht, dass sie dasselbe tun müssen wie wir. Milan Kundera schreibt in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ den schönen Gedanken, dass der Protagonist er selbst sei, wenn er sich im Leben anders entschieden hätte. Sich daran zu orientieren, ist sicher hilfreich. Die Exzentrik eines Charakters hebt schon Sol Stein in seinem Buch „Über das Schreiben“ als wichtigsten Aspekt der Hauptfigur hervor. Die Bedeutung des Begriffs kann man sich mit seinem lateinischen Ursprung herleiten, um ihn zu verstehen. Er bedeutet so etwas wie „aus der Mitte heraus“ und die Mitte ist natürlich die Mitte der Gesellschaft, wenn man so will. Der Protagonist sollte etwas fürchten oder etwas hassen, was für die meisten Menschen alltäglich ist oder etwas mögen oder eine Verhaltensweise an den Tag legen, die für die meisten Menschen eben nicht alltäglich ist. Diese Attitüde darf ihn auch gerne in gewisser Hinsicht an den Rand der Gesellschaft drücken, denn das hat eine interessante Perspektive des Alltäglichen zur Folge. Zum Beispiel meidet er Cafés oder Ämter oder liebt sinnlose Konfrontationen und Provokationen. Das hat Konsequenzen für seinen Alltag und macht gewöhnliche Begebenheiten spannend. Sehr beliebt sind auch Phobien, die er überwinden muss, um sein Ziel zu erreichen. Hier darf der Autor seiner Phantasie ruhig einmal freien Lauf lassen. 

3 Die Interaktion - Nicht denken, sondern handeln

Typisch für eine Szene in einem ersten Manuskript ist die Situation, dass zum Beispiel der Protagonist in der Straßenbahn angerempelt wird und nun reagiert, indem er sich denkt: „Was für ein Arschloch, der mich da angerempelt hat“. Das würden viele in dieser Situation denken. Im normalen Alltag ist es wohl auch klug, wenn man es bei dem Denken belässt, in einer Geschichte verhält es sich allerdings umgekehrt. Anfangs muss man sich gewiss mit dem gedanklichen Innenleben seines Protagonisten auseinandersetzen, was viele innere Monologe zur Folge hat. Aber oft machen angehende Autoren den Fehler, die inneren Monologe einfach so stehen zu lassen und so ihren Protagonisten zu passiv zu halten. Deswegen ist es besonders bei der ersten Überarbeitung eines Manuskripts lohnenswert, die inneren Monologe zu überprüfen, ob sich hier Denken in Handeln umwandeln lässt, eine Situation oder auch nur einen Dialog, in dem eine andere Figur auf das Gedachte reagieren kann. Auch in solchen Änderungen steckt jede Menge Potential für neue Ideen.

Das Schöne der Welt - Auch mal was schön finden

Den Protagonisten einer Geschichte erwischt man als Leser selten in einer Lebensphase, in der er total gut drauf ist, weil einfach alles läuft. Der Konflikt bestimmt die Spannung der Geschichte. Das bedeutet aber nicht, dass der Protagonist ständig mies drauf sein muss und gar nichts schön finden soll, im Gegenteil. Eine Figur, die gelegentlich irgendetwas mag, schön findet oder sich über etwas freut, wirkt auf den Leser sympathisch. Ich glaube, im richtigen Leben würden die wenigsten Menschen lange Kontakt mit jemanden halten, der einfach gar nichts mag und nie gut drauf ist. Mit Figuren läuft das ähnlich. Man muss sich gelegentlich auch über etwas mit dem Protagonisten freuen können, das stärkt die Bindung.

Und was sind Ihre Hobbys? Aktivität abseits der Handlung

Auf Instagram habe ich einmal einen tollen Tipp von einem Autor gelesen, dessen Name mir leider nicht mehr einfällt (solltest Du Dich in diesem Abschnitt wieder erkennen, schreib mir gerne). Ein Protagonist sollte immer irgendeiner Beschäftigung nachgehen, die nichts mit der Handlung zu tun hat oder sich zumindest nicht direkt auf sie bezieht. Denn irgendwann muss jeder einmal etwas anderes machen, sich einem Hobby oder einer Leidenschaft widmen, um dann wieder zur Handlung zurückzukehren. Auch für zufällige Ereignisse, die die Handlung vorantreiben, ist das nützlich, wenn zum Beispiel der Protagonist eine wichtige Entdeckung macht oder eine bedeutende Begegnung hat, während er Fischfutter kauft (sollten Fische sein Hobby sein). Wenn man sich anfangs darüber Gedanken macht, wirkt dieser Tipp eher belanglos, aber sobald man sich festgelegt hat, wird man feststellen, dass die Figur sehr viel mehr Leben durch so ein Hobby bekommt.


Meiner Erfahrung nach sind alle diese Punkte bedenkenswert, um eine faszinierende Figur zu schaffen. In jeder Hinsicht gilt es, schöpferisch zu sein, seine Phantasie spielen zu lassen und sich auch nicht immer auf gewisse Aspekte der Handlung zu versteifen, die mit einer solchen Idee im Widerspruch stehen. Man ist eben auf einem Spaziergang, wenn man schreibt, und da muss es nicht immer darauf ankommen, wann man ein Ziel erreicht und welches das ist. Denn eines kann gewiss nicht das Ziel sein: Ein langweiliges Buch zu schreiben. (gepostet: 17.9.2021)