Das erste Mal über die Psychiatrie geschrieben habe ich eigentlich schon gut ein Jahr nach dem Beginn meiner Arbeit dort. Da war es allerdings ein Lied, denn mein Band- und Arbeitskollege Frank Schmedders kam einmal in der Dienstpause zu mir und hatte wieder eine Songidee. Der Text sollte von unserer Station handeln. Wir haben also abwechselnd Zeilen geschrieben und herausgekommen ist das Lied „Suffer to time“, das tatsächlich in einer Neuaufnahme auch auf dem jüngsten Way-of-Joy-Album gelandet ist. Aufnahmen vom Original existieren ebenfalls noch. Im Laufe meiner Zeit bei Way of Joy war ich immer wieder versucht, Texte über die Arbeit auf Station zu schreiben, aber ich bin absolut kein Songschreiber, daher kam nichts dabei herum. Von meinem letzten Arbeitstag an trug ich allerdings das Gefühl mit mir herum, dass ich noch irgendwann einmal irgendetwas über diese Erfahrungen berichten würde.
Als ich dann im August 2004 mein Magisterexamen bekam, war ich auf der Suche nach einer Promotionsstelle an der Uni und nach einem Thema für meine Doktorarbeit. Zum ersten Mal seit Beginn meines Studiums hatte ich nichts zu schreiben und so setzte ich mich eines Tages hin und schrieb ein paar Geschichten auf. Die erste davon hieß "Rendezvous mit einem Fremden". Es ging um eine kleine Angestellte, die zehntausende von Arbeitsplätzen rettete, weil sie einen Investmentbroker bei einem Blind Date versetzte. Der betrank sich nämlich daraufhin so derbe, dass er am nächsten Tag den Termin für einen Geschäftsabschluss versäumte, der eben viele Menschen den Arbeitsplatz gekostet hätte. Aber die Frau selbst hat davon natürlich nie erfahren. Ich finde die Idee bis heute enorm faszinierend, dass ein normaler Mensch mit kleinen Handlungen etwas Großes bewirken kann, ohne das er es jemals herausfindet. In diesem Sommer schrieb ich noch ein paar weitere Geschichten und fasste sie zu einer Art kleiner Sammlung zusammen. Darunter war auch "Der Ausflug", meine erste Geschichte über die Psychiatrie, die dann später überarbeitet in Traumschrott gelandet ist.
Wer eine Doktorarbeit (zumindest in Geschichte) schreibt, klingt sich aus wesentlichen Teilen des gewöhnlichen Lebens aus, um hinter Büchern zu sitzen. Das ging mir auch so. Ein Jahr lang habe ich nur gelesen, dann auch mit dem Schreiben begonnen. Gelesen habe ich natürlich dennoch wie ein Berserker und ich freue mich bis heute darüber, wenn ich Bücher "ohne Bleistift" (also ohne mir Notizen machen zu müssen) lesen darf. Im Laufe der Arbeit gab es aber auch immer mal wieder Momente, in denen ich eine Auszeit brauchte und meinen Kopf von angeschwemmten Ideen befreien musste. Also schrieb ich weitere kleine Geschichten. Einige aus dieser Zeit sind ebenfalls in Traumschrott veröffentlicht, so zum Beispiel „Der Prinz“, „Das Idol“, „Sveta“, „Sandbank“ und „Seltenreich“. Allerdings waren die Geschichten für mich erst einmal nicht mehr als ein Hobby, ein wenig Entspannung zwischen vielen anderen Büchern und Texten. Ich wollte ja Wissenschaftler werden.
Für meine Doktorarbeit habe ich mir das Werk des niederländischen Historikers Johan Huizinga ausgesucht. Der hat 1936 eine Kritik der Kulturentwicklung seiner Gegenwart geschrieben und ich fand es spannend, wie er Deutschland und die Nazis gesehen hat in dieser Zeit, ohne vom Zweiten Weltkrieg und vom Holocaust zu wissen. Dafür musste ich seine Ansichten zu Deutschland im Allgemeinen aus seinen Büchern, Aufsätzen und Briefen herausarbeiten, was sich als eine sehr spannende Aufgabe herausstellte. Ich erfuhr viel über die Grenzen der Wissenschaft, wieviel man eigentlich überhaupt über Geschichte und die Vergangenheit wissen kann, wieviel Einbildung, Phantasie, und besonders wieviel Gegenwart eigentlich in dem steckt, was wir historisches Wissen nennen. In der Auseinandersetzung mit anderen Forschern habe ich eins gelernt: Wer Wissenschaft betreibt, schreibt nur über das, was er wirklich beweisen oder belegen kann. Das ist aber niemals das große Ganze, das Gefühl für ein Thema, das sich automatisch einstellt, muss letztlich außen vor bleiben, solange es nicht irgendwie nachzuweisen ist. Aber auch das Gefühl enthält eine ganze Menge Wahrheit, nur gehört es nicht in die Wissenschaft. Es muss, so dachte ich mir, aber auch einen Ort geben, in dem dieses Gefühl Platz hat. Und schließlich kam ich drauf: Dieser Ort kann nur die Kunst, und für mich besonders die Literatur sein.
So packte ich in die Doktorarbeit alles hinein, was ich belegen konnte. Auf dem Rest blieb ich sitzen. Schon als das fertige Manuskript bei den Lektoren war, fing ich an, mein erstes Romanmanuskript zu schreiben. Es trug den Titel "Briefe aus Aragon" und handelte von einem Mann, der eines Tages die Brieftasche eines völlig Fremden findet, in der sich ein Portraitfoto seiner verstorbenen Frau befindet. Darauf durchsucht er zum ersten Mal ihre hinterlassenen Sachen und findet eine ganze Menge Briefe, die ihm zeigen, dass seine Frau ein völlig anderes Leben geführt hat, als ihm bekannt war. Damit setzte ich zum ersten Mal um, was ich gerne "A hole in the somewhere" nenne. Das bedeutet, dass eine Geschichte damit beginnt, dass dem Protagonisten etwas passiert, was seine Perspektive auf alles vollkommen in Frage stellt. Am besten ist das meiner Ansicht nach umgesetzt im Film Truman Show, wenn Truman am Anfang aus seinem Haus tritt und einfach so ein Scheinwerfer vom Himmel fällt. Das finde ich einfach genial.
Ich wendete mich mit dem Manuskript an die Krefelder Verlegerin Ina Coelen, die mich sehr freundlich empfing und mir tolle Tipps gab. Abgelehnt hat sie es dann doch, aber es war auch wirklich nicht gut geschrieben. Ein Satz, der in ihrer Ablehnung stand, hieß: „Eine Geschichte muss erzählt werden“. Dieser Satz sollte mich fortan beschäftigen. Ich versuchte jahrelang herauszufinden, was genau sie damit meinte.
Aber zunächst hielt ich noch immer das Geschichten Schreiben für ein Hobby. Ich wollte nach der Dissertation weitermachen mit der Habilitation, um schließlich Professor zu werden. Und während ich Bücher zu verschiedenen Themenansätzen hin- und herwälzte, kam im Februar 2009 mein ehemaliger Arbeitskollege Holger Schmenk am Billardtisch der Oberhausener Metalkneipe Helvete mit der Idee um die Ecke, ein Buch über Heavy Metal im Ruhrgebiet zu schreiben. Das würde mich, wie sich herausstellte, tatsächlich eine Zeitlang in Atem halten ...
Ein Buch über Heavy Metal im Ruhrgebiet zu schreiben, gewann sofort an Reiz, als ich herausfand, wie viele meiner Lieblingsbands aus früheren Jahren darin eine Rolle spielen würden. Da waren nicht nur Sodom und Kreator, vielmehr hatten durch das Label Century Media auch Bands wie Unleashed, Tiamat oder The Gathering etwas mit der Geschichte des Ruhrgebiets zu tun. Dazu kam das Rock-Hard-Magazin, ich war langjähriger Abonnent und die Redakteure dort waren für mich fast genau solche Helden wie die Musiker. Wir interviewten sie alle und ich lernte ebenso die Musik von Rage, Mekong Delta und Axel Rudi Pell zu schätzen. Das beste Interview, an das ich mich erinnere, war allerdings mit dem Musiker und Produzenten Waldemar Sorychta, der so viele meiner Lieblingsalben aus den 90ern produziert hatte und mir einen über zweistündigen Nachhilfekurs in Sachen Musik bescherte. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Ähnliches gilt für das Interview mit Century-Media-Gründer Robert Kampf, aber das hatte dann ja noch ganz andere, großartige Folgen. Außerdem lernte ich die Karrieren der Bands kennen und kam meiner früheren Frage, wie eine Band erfolgreich werden könnte, einen entscheidenden Schritt näher.
Was nach der Veröffentlichung 2010 mit Kumpels in Kutten geschah, war der Traum eines jeden Autors. Wir erfuhren so viel Zuspruch und so viel Unterstützung für unsere Arbeit, dass das Buch für seine Verhältnisse durch die Decke ging und ich bin heute froh, wenn meine anderen Bücher nur ein Zehntel der Verkäufe wie „Kumpels in Kutten“ haben. Das war natürlich der optimale Startschuss für die Fortsetzung meiner Arbeit als Autor. Wir machten Lesungen mit vielen Szeneberühmtheiten, lasen auf dem Rock-Hard-Festival vor über 600 Leuten, lasen im legendären Essener Café Nord, das auch dank des begleitenden Akustik-Gigs meiner Freunde von Layment aus allen Nähten platzte, wir wurden in Radiosendungen, Zeitungen und im Fernsehen interviewt und unser Buch lag monatelang an exponierter Stelle in allen großen Buchhandlungen, die ich besuchte. Wir sind zwar nicht unbedingt Berühmtheiten geworden, aber zu den meisten Gelegenheiten unter Metallern musste nur jemand sagen, dass wir dieses Buch geschrieben haben, und schon waren wir drin. Es war einfach großartig.
Doch die Frage blieb, was ich nach meiner Doktorarbeit mit meiner wissenschaftlichen Karriere anstellen würde und ich fragte mich, welches Thema mich noch einmal so begeistern könnte wie das Werk Johan Huizingas. So kam ich auf meine Erfahrungen in der Psychiatrie zurück. Ich wollte die Geschichte der Psychiatrie erforschen, las einige Bücher zu diesem Thema, bis ich schließlich bei Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ angekommen war. In diesem Buch vertritt Foucault die These, dass bestimmen zu können, was als normal und was als verrückt angesehen wird, einen wesentlichen Anteil von Herrschaft über Menschen durch ein Regime ausmacht. Wie er das belegt, ist selbst ein Wahnsinn, zumindest für einen Normalsterblichen. Doch ist dieses Buch derart grundlegend für das Thema Psychiatrie gewesen, dass ich mich sehr intensiv damit hätte auseinandersetzen müssen. Meine persönlichen Erfahrungen hätte so eine Arbeit aber nicht im Mindesten bereichert, so mein Gefühl. Die Wissenschaft war wohl nicht das richtige Medium, um über dieses Thema zu schreiben. Das ist die viel geliebte "Utopie" gewesen, von der ich mich verabschieden musste.
Als dann Holger Schmenk mit der Idee zu mir kam, ein Buch über das Label Century Media zu schreiben, verwarf ich meine Pläne, zumal ich fast zeitgleich die Möglichkeit bekam, an der Uni als Schreibdozent tätig zu werden. So dachte ich mir: Wieso fünf oder sechs Jahre mit einem einzigen Thema für ein mäßig interessiertes wissenschaftliches Publikum verbringen, wenn ich doch so viele andere Bücher schreiben könnte? Und noch viel wichtiger war die Erkenntnis über die Macht der Literatur. Wenn es, so dachte ich mir, einen geeigneten Weg gibt, über meine Erfahrungen in der Psychiatrie zu schreiben, dann wäre das doch am ehesten ein Roman.
Das Buch über Century Media war für mich persönlich ein Meilenstein in meiner Entwicklung, nicht nur, weil ich mir damit definitiv die Frage beantwortete, wie eine Band erfolgreich wird. Ich lernte mit Robert Kampf einen unglaublich inspirierenden Menschen näher kennen, dessen Hingabe wie auch (Sach-)verstand ich bis heute für mich als vorbildlich erachte. In den Interviews mit den Mitarbeitern und Musikern und auf meiner Reise nach Los Angeles – ich war das erste Mal in den USA – habe ich außerdem so viel gelernt, dass ich mich danach entschied, meine liebgewordene Matte empfindlich zu kürzen und fortan nicht mehr mit Zopf herumzulaufen. Mein Kopf war voll mit so vielen Gedanken über Musik und Selbstverwirklichung. Zudem galt ich in dieser Zeit als „Metal-Autor“ und so wurde nicht die Psychiatrie, sondern die Metal-Szene Gegenstand meines ersten Romans mit dem Titel At Dawn They Sleep.
Die ersten Entwürfe für einen Psychiatrie-Roman hatte ich bereits vor der Arbeit an dem Century-Media-Buch geschrieben. Dass ich nun die Metal-Szene als Thema für mein Debüt wählte, hatte den Vorteil, dass ich unendlich viel mehr Ideen dazu hatte. Ich berichte sozusagen aus dem „Auge des Sturms“ unter dem Eindruck der über 100 Interviews, der Konzerte und Lesungen. Im Nachhinein bin ich froh darüber, denn das Buch enthält zahlreiche Experimente eines schreibverrückten Debütanten, der sich noch ein wenig die Hörner abstoßen musste.
So hatte ich seit 2010, nach „Kumpels in Kutten“, den definitiven Vorsatz, einen Roman über meine Psychiatrie-Erfahrungen zu schreiben. Century Media kam dazwischen, die famose Band Crossplane kam dazwischen, für die ich einige Jahre intensiv einen Blog schrieb, At Dawn They Sleep kam dazwischen, aber nachdem mein Debütroman im Jahr 2014 erschien, sollte es doch nun wirklich soweit sein, sollte, dachte ich …