1996-2019: The Road to

1998-2004


Frühling/Winter 1998: Nachtschicht

Nach dem Abitur habe ich gedacht, dass ich nie wieder in meinem Leben ein Buch in die Hand nehmen werde. Während der Schulzeit musste ich mich die meiste Zeit zum Lesen zwingen. Lediglich Stephen King hat mir die eine oder andere unterhaltsame Stunde beschert, Schullektüren sagten mir wenig. Gottfried Keller, Günter Grass, Thomas Mann, Siegfried Lenz, für mich hatten sie alle stets diese komische, auf eine bestimmte „Moral“ hinauslaufende Attitüde, die belehrt, ohne zu erklären. Ich gebe zu, bis zum Ende gelesen habe ich sie meistens auch nicht. Lediglich Goethes „Faust“ war wegen der Figur des Mephisto für mich als Metaller so ein wenig Teil meiner Lebenswirklichkeit, Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“, Poes „Die Morde in der Rue Morgue“ und sogar von Horvaths „Jugend ohne Gott“ mochte ich wegen ihres Krimi-Charakters. Aber ich war weit, sehr weit entfernt von einer Einsicht, die dem Lesen irgendeinen Gewinn für das wirkliche Leben zuspricht. Aber es lag nicht an den Büchern, es lag an meinem Leben.

 

Ich habe keine drei Monate auf Station gearbeitet, da begann ich zu lesen wie ein Wahnsinniger. Zunächst war es nur die lokale „Westdeutsche Zeitung“, weil die immer bei uns herumlag. Dann folgten die Romane, Trivialliteratur größtenteils, ein bisschen King, John Grisham, Dean Koontz und einige mehr. Ich mochte Gruselgeschichten und Thriller. Dank der Arbeit auf Station, die mich täglich körperlich und geistig voll beanspruchte, sah ich im Lesen auf einmal eine willkommene Ablenkung. Darüber hinaus machte es mir Spaß, gewisse Parallelen in der Welt der Bücher und meiner eigenen Welt zu entdecken. Ich las auf Station, wenn ich Zeit hatte, und verbrachte viele Nachmittage in meinem Wohnheimzimmer auf dem Sessel oder der Bettcouch mit einem Buch in der Hand. Selbst einmal ein Buch zu schreiben, lag allerdings noch weit außerhalb meiner Ideenwelt.

 

Darüber hinaus beschäftigten mich meine beiden Bands Whikings und Way of Joy. Ich hatte mindestens dreimal pro Woche Probe und ging zwischendurch noch in den Proberaum, um Schlagzeug zu üben. Besonders bei Way of Joy gab es gestandene Musiker, die Ansprüche an mein Können stellten. Um denen gerecht zu werden, musste ich erst einmal einiges aufholen. Wir spielten erste Konzerte, nahmen eine gemeinsame CD auf. In mir wuchs zum ersten Mal wirklich die Frage, wie eine Band eigentlich erfolgreich und berühmt wird und die habe ich mir in Grundzügen mit Kumpels in Kutten und vollends mit meinem Century-Media-Buch beantwortet. Vorbild, Berater und guter Freund in dieser Zeit war Klaus Spangenberg, der musikverrückteste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Besonders als Mischer und Produzent ist er ein As, nahm zwei unserer Whikings-Demos auf und verdiente später seine Brötchen an den Reglern von Bands wie Morgoth, Dew Scented, Sodom und bestimmt noch einigen mehr. So hatte ich ein Umfeld, in dem ich musikalisch wachsen konnte, und natürlich träumten wir alle damals vom großen Durchbruch. Den gab es nicht, aber es war dennoch keine Sekunde verschwendet.

 

Anfang des Jahres 1998 merkte ich wohl zum ersten Mal, dass ich etwas tun muss, um den Absprung von der Station zu schaffen. Das der notwendig würde, wusste ich immer, denn schließlich hatte ich das Gefühl, dass die geschlossene Psychiatrie jene Schule war, die ich gebraucht und vorher nie bekommen habe. Aber was nützt die beste Ausbildung, wenn man nicht flügge wird? Also erinnerte ich mich an meinen Wunsch, einmal Sportjournalist zu werden und tat das, was mir adäquat erschien: Ich sprach bei der örtlichen Redaktion der Westdeutschen Zeitung vor und nahm mir zwei Wochen Urlaub, um dort im Frühjahr 1998 ein Praktikum zu machen. Im Anschluss durfte ich dort als freier Mitarbeiter tätig sein und schrieb hauptsächlich über die Konzerte in der Krefelder Kulturfabrik. So kam ich kostenlos auf viele Konzerte und verdiente noch etwas Zeilengeld dabei. Auch meine ersten Interviews führte ich, u. a. mit Thilo Wolff von Lacrimosa, Eric Fish von Subway to Sally und an erster Stelle Sven Regener von Element of Crime. Das war eines der interessantesten Gespräche, die ich jemals geführt habe.

 

Bei meinem Abschlussgespräch des Praktikums mit dem Chefredakteur erzählte der mir, dass er Geschichte studiert habe. Da ich auch einmal Chefredakteur werden wollte, dachte ich, dass ich dann wohl auch Geschichte studieren müsse. Ich war in dem Fach in der Schule zwar lediglich auf einer soliden 4 und die Goebbels-Reden, die im Deutsch LK drankamen, analysierte ich irgendwie immer anderes, als mein Deutschlehrer das wollte, so dass ich reihenweise Fünfen kassierte, aber was hatte das schon zu bedeuten? Geschichte klang irgendwie gut.

 

Bei meiner Arbeit auf Station bemerkte ich inzwischen, dass immer mehr die Routine Einzug hielt. In der geschlossenen Langzeitpsychiatrie scheint die Zeit still zu stehen, weil man eigentlich jeden Tag dasselbe macht. Doch die Welt draußen dreht sich weiter. Dieser Widerspruch macht das Arbeiten auf Station manchmal zu einem willkommenen Zuhause, in dem man mit Menschen und Abläufen vertraut ist. Manchmal aber hat man das Gefühl, die Welt entfernt sich von einem selbst, wenn man nicht aufpasst. Deswegen wollte ich Studieren gehen, Geschichte und was es sonst noch so gab. Allerdings bin ich kein Mensch der klaren Schnitte. Ich muss vielmehr alte Gewohnheiten „ausschleichen“, wie man in der Krankenpflege sagt, die Dosis langsam heruntersetzen, so dass der Körper sich an jeden Schritt gewöhnen kann.

 

So schrieb ich mich nicht für das Wintersemester 1998 ein, sondern erst für das Sommersemester 1999. Ich war der Überzeugung, dass ich erst einmal etwas aufholen müsste, weil mein Abitur so schlecht war. Ich ging also ab November 1998 vom Tagesdienst in die Nachtschicht. Da ich immer ungelernte Kraft gewesen bin, musste ich viel einspringen und aushelfen, so dass ich viel andere Stationen kennen lernte, die offene Langzeit, Gironto, und offene akute Stationen. Zwischendurch lernte ich, wo ich konnte. Ich versuchte mir Französisch und Polnisch beizubringen und las Geschichtsbücher, die noch aus meiner Schulzeit übrig waren. Nächtelang hockte ich auf Stationen über Büchern, Element of Crimes Album „Damals hinterm Mond“ im Hintergrund laufend, was für mich bis heute der beste Soundtrack für Nachtschichten ist. Ich machte Bekanntschaft mit dem Krankenhaus bei Nacht, mit Leichenhalle und Materiallager (das merkt man wohl auch im Roman) und außerdem mit der Situation, auf einer Station völlig auf sich alleine gestellt zu sein. Aber das war alles in allem eine schöne Erfahrung und während der vielen Jahre ohne wirklich sicheren Job habe ich immer gedacht: Wenn alles schiefgeht, gehst du wieder in die Nachschicht.

 

Dieser Abschied auf Raten von den Patienten und Mitarbeitern der Station 11 war notwendig. Zu viel hat mir das alles bedeutet, zu sehr hat es mich geprägt, als dass ich das alles einfach so hinter mir lassen konnte. Diese Station und die gesamte Psychiatrie ist meine geistige Heimat, das, wo ich herkomme. Sie ist der feste Punkt, von dem bis heute ein Großteil meines Denkens ausgeht. Aber sie war auch mein sicherer Hafen, der Ort meines Selbstbewusstseins. Mit der Uni begann in meiner Vorstellung die Schulzeit noch einmal und vielleicht war es ja auch alles nur ein Traum, ein Trugschluss. Vielleicht würde ich an die Uni kommen und merken, dass ich eigentlich gar nichts gelernt habe, dass ich noch exakt derselbe bin wie früher. Und vielleicht würde ich dann wieder genauso versagen wie in der Schule. Ja, ich war froh, dass ich noch etliche Nachtschichten vor mir hatte, bevor ich diesen Schritt gehen musste …   

 


April 1999-August 2004: "Mit Geschichte kriegen Sie doch eh keinen Job!"

Im April 1999 sollte ich also wieder auf den „normalen“ Teil der Menschheit losgelassen werden. An die Universität Duisburg kam ich durch einen alten Bekannten, der dort studierte und der mich einmal mitnahm, um mir zu zeigen, wo ich mich einschreiben konnte. Das war wichtig, denn mein erster Versuch, mich in Düsseldorf einzuschreiben scheiterte grandios. Das Internet kannte ich nur vom Hörensagen und so setzte ich mich an einem Tag in den Zug nach Düsseldorf und suchte bei den Bahnfahrplänen am Hauptbahnhof nach einer Haltestelle namens „Universität“. Die fand ich und fuhr dorthin, ging in das erstbeste Gebäude und fragte den erstbesten Menschen, wo man sich hier für Geschichte einschreiben könnte. Der sagte, er wisse es nicht und so fuhr ich wieder nach Hause. Das zeigt schon, ich brauchte Hilfe, um mich in der Welt der „Normalen“ zu Recht zu finden.

 

Nach meiner Einschreibung in Duisburg bekam ich einen Brief von der Fachschaft, die mich zur Erstsemestereinführung einluden. Am Abend vor diesem Termin konnte ich kaum schlafen und ich weiß bis heute, dass ich vor keiner Prüfung so nervös gewesen bin, wie vor meinem ersten Tag. Dabei waren alle sehr nett und lösten gleich einmal das Größte Mysterium von allen: wie ich mir meinen eigenen Stundenplan zusammenstellen sollte. Diese Möglichkeit war mir mit meiner Schulerfahrung völlig unbekannt. Am Abend fuhr ich mit dem Bus nach Hause, sah auf die im Abenddunkel aufragenden Gebäude der Bibliothek und dachte mir: Das ist also nun der Ort, an dem es sich entscheidet, entweder diese Gebäude werden später für Deinen Triumph oder für Deine endgültige Niederlage stehen.

 

In den folgenden Jahren sollte es zum Glück dann doch eher ein Triumph werden. In meiner ersten Seminarstunde kam der erste Geschichtsprof, dem ich jemals in meinem Leben begegnet war, setzte sich ans Pult und sagte als erstes: „Warum studieren Sie eigentlich Geschichte? Da bekommen Sie doch eh keinen Job mit!“ Sehr motivierend. Doch gab es zwei wesentliche Umstände, die das Studium für mich zu einem Erfolg werden ließen, der auch noch Spaß machte: Zum einen der Unterschied zur Schule. Man musste zwar viel mehr lesen, aber man durfte dabei auch denken und diskutieren. Zum anderen waren die Gemeinsamkeiten von „Verrückten“ und „Normalen“. Sie waren mannigfaltig und in mir formte sich die Idee, dass prinzipiell ein Mensch nur von zwei Dingen in seinem Leben geführt wird: Seinen Ängsten und seinen Bedürfnissen. Für jeden Menschen gibt es etwas, wo er hin will, und etwas, vor dem er wegläuft. In der Psychiatrie hatte ich gelernt, damit umzugehen und das half mir sehr im Studium.

 

So trat ich im dritten Semester in die Fachschaft ein, wo ich schon bald selbst einer derjenigen wurde, der den Erstsemestern half. Dann bändigte mein Latein-Trauma aus der Schule, indem ich mein Latinum an der Uni nachmachte. Dabei musste ich stets Seneca übersetzen und die Philosophie der Stoa von Ruhe und Gleichmut wurde zu einem Quell der Erkenntnis über das, was ich in der Psychiatrie erlebt hatte. Mein Politikstudium zwang mich, mich mit den Ereignissen der Welt auseinanderzusetzen, besonders nach dem 11. September 2001. Außerdem musste ich einen Teil meines Studiums in Nimwegen absolvieren und lernte darüber die Schriften des niederländischen Historikers Johan Huizinga kennen, ebenso eine Offenbarung, so dass ich über ihn später meine Doktorarbeit schrieb.

 

Aber diesem Ziel musste ich mich im Studium erst langsam annähern. Meine freie Mitarbeit bei der Zeitung bescherte mir viele schöne Abende auf Konzerten, aber auch die Erkenntnis, dass Journalismus nicht mein Ding ist. Im Studium habe ich es sehr genossen, mich über Wochen mit einem einzigen Thema zu beschäftigen, darüber zu lesen und schließlich eine Hausarbeit zu schreiben. Tatsächlich habe ich über Hausarbeiten meine Leidenschaft für das Schreiben erst wirklich entdeckt, auch wenn mich wahrscheinlich genau dafür 9/10 aller Studierenden für komplett bescheuert halten. Im Journalismus muss man sehr viele Texte zu unterschiedlichen Themen produzieren und zudem echt viel „Networken“, das war beides nicht mein Ding. Also formte sich in mir eine neue Idee: Ich wollte Wissenschaftler werden.

 

Am 31. März 2002 hatte ich meine letzte Schicht in der Psychiatrie als studentische Hilfskraft. Wenige Wochen später heuerte ich als studentische Hilfskraft an der Uni an und bin seitdem bis heute ununterbrochen in irgendeiner Position dort beschäftigt. Dort habe ich eine neue Heimat gefunden, nachdem ich die alte, die Psychiatrie, verlassen hatte. Später auch räumlich denn 2003 zog ich ins Studentenwohnheim nach Duisburg, ebenfalls eine Erfahrung der ganz besonderen Art, besonders weil ich dort Menschen aus allen Ecken der Welt kennen lernte. Aber das Wichtigste war die Erkenntnis, dass ich viele Erfahrungen aus der Psychiatrie wunderbar anwenden konnte, sie mir gar einen Vorsprung gaben gegenüber anderen. Ich war gewohnt, Dinge nicht zu verstehen und dennoch mit ihnen arbeiten zu können, zu improvisieren, mir selbst zu helfen oder zumindest selbst Hilfe zu holen.

 

Nach meiner Magisterarbeit über einen NS-Propagandafilm (weil ja vorher schon von Scheiße anfassen die Rede war) hat in mir nur den Wunsch hinterlassen, direkt noch weiter zu forschen und mich mit einem Thema wirklich erschöpfend auseinander zu setzen. Und da ich ohnehin Wissenschaftler werden wollte, war die Promotion der nächste logische Schritt. Denn neben der Psychiatrie war das Thema der NS-Zeit eine Sache, die die meisten Menschen nicht wirklich anfassen wollten, obwohl die Meisten meinten, sich damit auseinandergesetzt zu haben. Ich wollte wirklich eine tiefe, unumstößliche Wahrheit darüber herausfinden, so wie jene, die mir in Irland in den Sinn gekommen war. Und was war dafür besser geeignet als die Wissenschaft? 

 

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