Ich weiß, dass nicht wenige in diesem Jahr wehmütig durch den Gelsenkirchener Nordsternpark spaziert sind, am Amphitheater vorbei, das wegen Corona am diesjährigen Pfingstwochenende traurig und verwaist blieb. Das erste Mal seit 2002 fand das Rock Hard Festival nicht statt, wohl nicht nur für mich der Festival-Höhepunkt des Jahres im Ruhrgebiet. Wenn ich von weitem die charakteristischen Veltins-Werbebanner, von Nahem durch den Zaun den Pressebereich oder vom anderen Ufer des Rhein-Herne-Kanals die Bühne betrachte, überkommt mich ein unnachahmliches Gefühl von Dankbarkeit. Das Festival, die Redaktion, ach, das ganze Ruhrgebiet haben mir eine Zeit geschenkt, in der ich mich in der Metal-Szene durch das auszeichnen durfte, was ich kann, obwohl es erst einmal nichts mit Metal zu tun hat: Bücher schreiben. Ich durfte eine zweite Jugend im Ruhrgebiet erleben und all die Idole meiner Teenagerzeit kennenlernen, weil sie eben vornehmlich aus dem Ruhrgebiet kamen. Ich dürfte hinter die Kulissen des Musikgeschäfts blicken, hinter die Stirn von so vielen unterschiedlichen Menschen, ich durfte ein Bild davon zeichnen und es zwischen zwei Buchdeckel packen. Ich durfte dem Ruhrgebiet etwas Kleines geben – im Jahr der Kulturhauptstadt – wofür es viel dankbarer war, als ich jemals hätte erwarten können. Auf Initiative meines damaligen Arbeitskollegen Holger Schmenk durfte ich mit ihm zusammen ein Buch über den Heavy Metal im Ruhrgebiet schreiben, das den Titel trug, der seiner Frau Nicole wohl einmal so nebenbei beim Frühstück eingefallen war: Kumpels in Kutten.
Anfang 2009 befand ich mich sowohl beruflich als auch privat auf der Schwelle zu etwas Neuem. Meine Doktorarbeit war nach insgesamt 4 Jahren endlich fertig geschrieben und ich hatte mich in jeder Hinsicht neu zu orientieren. Mein Arbeitskollege Holger Schmenk und ich hatten in unserem gemeinsamen Büro schon früh (nämlich an den Desktop-Bildern unserer Computer) erkannt, dass wir beide Metal hörten und er schien die von mir als „Jugendliebe“ betrachtete Leidenschaft wieder etwas entfachen zu wollen. Er nahm mich mit in die Oberhausener Helvete, wo ich unter anderem auch Paul DiAnno live sehen konnte, schenkte mir das damals neue „Twillight of the Thunder Gods“ von Amon Amarth und irgendwann im Februar fragte er mich nebenbei am Billardtisch, ob ich nicht ein Buch über Metal im Ruhrpott mit ihm zusammen schreiben wollte. Damit brachte er ins Rollen, was ich heute gerne meine vierte Jugend nenne: Ein paar Jahre voller Festivals, Konzerten, Lesungen, Interviews und natürlich und vor allem: Metal!
Das erste Interview für Kumpels in Kutten war mit Peavy Wagner in einem Eiscafé in Herne. Daraus habe ich vor allem eine Sache gelernt. Interviews muss man aufzeichnen, denn Mitschreiben ist Satan (also, im negativen Sinne). Das zweite war mit Götz Kühnemund (in einem Eiscafé in Dortmund, ist unter Metallern offenbar sehr beliebt) und glich einem Fortbildungskurs. Danach wussten wir so ungefähr, was in dem Buch stehen musste. Über alle Interviews kann ich sagen, dass die Musiker, Manager, Journalisten ausnahmslos sehr nett, teilweise richtig begeistert von unserem Projekt waren. Mein persönliches Highlight steht allerdings außer Frage: Das war das dreistündige Telefonat mit Waldemar Sorychta. Mal abgesehen davon, dass er gut die Hälfte meiner Lieblings-Metalalben aus den 90ern produziert hat, ist er ebenso der größte Musikfanatiker, den ich je erlebt habe, vollgestopft mit Wissen und Emotion. Wenn er anfängt zu erzählen, kann man sich nur zurücklehnen und genießen. Zwei Sympathie-Ehrenpreise möchte ich noch zum einen Axel Rudi Pell verleihen. Das Gespräch mit ihm wirkte von seiner Seite aus so spontan und so ehrlich, als hätte er das erste Mal in seinem Leben ein Interview gegeben. Der andere geht an Axxis-Sänger Bernhard Weiß. Der Mann gab mir von der ersten Minute an das Gefühl, wir seien alte Freunde und stand auch später bei der Entstehung des Buches noch mit Rat und Tat zur Seite. Einfach großartig! Und last but not least: das wichtigste Interview für meine eigene schreiberische Zukunft mit Century Media Gründer Robert Kampf. Es war der Grundstein für mein nächstes Buch, eben über Century Media, das ich nach meiner Arbeit in der Psychiatrie als meine wichtigste Lebenserfahrung einordne. In all diesen Gesprächen habe ich gelernt, was es bedeutet, für etwas zu brennen, zu leben, seine ganze Leidenschaft und Energie in etwas zu stecken, um einfach nur noch so viel mehr zurückzubekommen, trotz aller Entbehrungen. Genau das inspiriert mich bis heute bei all meinen Büchern.
Das Rock-Hard-Magazin ist in den 90ern meine geistige Leib- und Magenspeise gewesen, wenn es um Metal ging. Ich hatte es mehrere Jahre abonniert, las es jeden Monat andächtig durch und fast alle meine Lieblingsmusik aus dieser Zeit bekam ich von den Reviews der Redakteure. Dabei waren Holger Stratmann, Götz Kühnemund, Frank Albrecht und wie sie alle hießen für mich nicht weniger Stars als all die Musiker. Unser Buch erschien am 31. Juli 2010, noch bevor sich die Wege dieser maßgeblichen Personen trennten. Und vom ersten Tag an hatten wir über ein halbes Jahr eine dicke, fette Gratisanzeige im Magazin in der Rubrik „Rock Hard Shop“. Seit 2009 durften wir darüber hinaus stets als Gäste auf das Rock Hard Festival. Waren wir in den ersten beiden Jahren noch am Rande des Geschehens, so wurden wir seit dem Erscheinen so oft auf unser Buch angesprochen, dass wir uns richtig zuhause fühlten im Gelsenkirchener Amphitheater. Im Vorfeld des 2011er Festivals kam dann auf einmal Holger Stratmann mit der Idee um die Ecke, dass wir auf dem Festival auch aus unserem Buch lesen durften. So etwas gab es noch überhaupt nicht und wir teilten uns die Biergarten-Bühne mit der famosen Coverband „Rocken“, die dort stets für das Karaoke-Event aufspielten. Vier „Slots“ gab es. Die ersten drei verliefen ruhig und beschaulich, wobei wir besonders einige niederländische Gäste amüsierten. Denn das Wort „Kutten“ ist auf Niederländisch ein ziemlich derber Ausdruck für das weibliche Geschlechtsteil, aber das nur nebenbei. Der vierte Slot allerdings war der Wahnsinn! Bobby und Gerre, die dort für ihr Video drehten, kamen als Gäste und auf einmal war die Hütte voll. Ich glaube bis heute, dass es ungefähr 600 Leute waren, die vor der Bühne standen. Bobby und Gerre haben ein Feuerwerk abgebrannt, immer wieder unser Buch hochgelobt und das Ding endete mit Stagediving, bei einer Buchlesung! Tatsächlich ist es sogar noch auf der Rock Hard DVD gelandet. Auf zwei weiteren Festivals durften wir das noch einmal wiederholen mit Gästen wie The Very End, Crossplane, Darkness und Motorjesus. Für mich die letzte Lesung auf dem Festival war dann noch das Sahnehäubchen obendrauf, denn wir hatten die komplette Refuge-Band als Gast da. Wie viel Ehre braucht man noch? Das Rock-Hard-Team hat mit Interviews und grandiosem Einsatz einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg des Buches beigetragen und auch an dieser Stelle will ich mich noch einmal dafür bedanken. Ihr habt aus etwas Besonderem etwas Einzigartiges gemacht!
Ein paar Tage nach der Veröffentlichung haben wir das Buch tatsächlich auch in Wacken auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Hier war das Interesse noch mäßig. In der Heimat allerdings erfuhren wir wenig später, dass der Verleger nachdrucken müsse, weil die Resonanz so groß war. Die ersten Reaktionen und Rezensionen zeigten uns auch, dass wir damit einen Nerv getroffen hatten. Wir organisierten die ersten Lesungen und auch eine Buchpräsentation in der Helvete inklusive Konzerten von Depredation, Scanner, Path of Golconda und der zwischenzeitlich Band von Manni Schmidt namens Capital Joke. Außerdem war Tom Angelripper als Gast dort, aber auch inoffizielle Ehrengäste wie Bobby Schottkowski, Viktor Smolski und Ralph Hubert. Von da an haben wir das Konzept „Lesungen mit Gästen“ weitergefahren. Es waren sehr viele und die meisten haben unglaublich viel Spaß gemacht. Zwei davon möchte ich hervorheben. Da war zum einen das Endzeit-Festival 2012 in der Essener Zeche Carl. Damals fuhr ich mit dem leider viel zu früh verstorbenen Fotografen Jörg Litges im Auto hin, sollte vier Slots machen und hatte keine Ahnung, wie das werden sollte. Jörg sagte nur: „Kein Problem, lass mich mal machen.“ Man muss dazu sagen, dass Jörg wirklich jeden Metaller im Ruhrgebiet kannte. Er stellte mich allen vor und so hatte ich im ersten Slot zwei Musiker von den Knappen, im zweiten drei von Darkness, im vierten Bobby Schottkowski, aber der Hammer war der dritte: Da saßen auf einmal Blackfire, Rob und Tritze neben mir, alles Ex-Kreator-Musiker! Und als letztes waren da die Lesungen mit meinen Freunden von der Band Layment bei Thalia in Dorsten, in der Burg in Dortmund (heute Blackend) und im Café Nord in Essen. Alle drei waren super besucht, besonders das Nord platzte aus allen Nähten, und wir hatten Mega-Abende. Danke an alle, die das möglich gemacht haben!
Ich schreibe gewöhnlich so intensiv an Büchern, dass das Thema danach auch für mich gegessen ist. Besonders nach den Jahren der Metal-Bücher (Century Media, mein Roman „At Dawn They Sleep“ und die Morgoth-Biografie) hatte ich das Gefühl, dass ich alles gesagt habe und nun andere zu Wort kommen sollten. Als mich Holger fragte, ob ich mit ihm eine Fortsetzung schreiben will, habe ich zwar zuerst zugestimmt, aber schnell gemerkt, dass das Feuer raus war. Insofern war ich an „Kumpels in Kutten 2“ nicht mehr beteiligt. Inzwischen bin ich sehr glücklich mit meinen Romanen und Kurzgeschichten. Aber die Zeit, die mir „Kumpels in Kutten“ und alles, was folgte, beschert haben, wird für immer bleiben. Ich habe den Metal und seine Menschen noch einmal komplett neu kennen und lieben gelernt und einige Freundschaften aus dieser Zeit haben auch bis heute Bestand. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wäre das mit Sicherheit, dass die Metal-Szene insgesamt sich neuen Trends und Strömungen etwas mehr öffnen würde. Besonders junge, kreative Bands haben es verdient, gehört und auf Konzerten besucht zu werden. Wir alle lieben die großen alten Helden, aber die werden irgendwann nicht mehr da sein. Doch der Metal soll weiterleben. Also, lasst uns neue Geschichten schreiben, auch und ganz besonders im Ruhrgebiet, der für mich unbestrittenen Wiege des Heavy Metal!